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STANDPUNKT/043: Kalter Krieg um Gottes Leere (Ingolf Bossenz)


Kalter Krieg um Gottes Leere

Atheismus in Deutschland - eine unerwünschte Weltsicht

Von Ingolf Bossenz


"Aus dem Materialismus stammt der Kapitalismus, stammt der Sozialismus und stammt der Nationalsozialismus. Deshalb wollen wir heute die Rückkehr zum christlichen Denken." Diesen frommen Wunsch äußerte Konrad Adenauer Anfang 1947 auf einer Wahlkampfveranstaltung. Zu einer Zeit also, da die CDU es noch für opportun hielt, den Kapitalismus unter jenes Böse zu subsumieren, das der Pandorabüchse des "Materialismus" entkriecht. Solch ungewöhnliche Perspektive war zwar ausgesprochen kurzlebig, aber auf eine solide Gottesfürchtigkeit des Volkes konnten die Architekten des westdeutschen "Wirtschaftswunders" später immerhin bauen.

Doch die Geschichte kennt kein Erbarmen: Über 61 Jahre nach der Rede des Rhöndorfer Rosenzüchters ist das "christliche Denken" wieder in Gefahr. Sind doch "fast zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer gerade in Berlin in der rot-roten Landesregierung und ihrem Umfeld Kräfte aktiv, die christliche Bekenntnisse aus der Öffentlichkeit herausdrängen wollen", räsoniert der "Tagesspiegel" und fährt verbittert fort: "Fast meint man, die Marx'sche These von der Religion als Opium des Volkes sei in der Linkspartei und auch in der SPD noch so virulent, dass ihre Anhänger sich im Sinne falsch verstandener Volksgesundheit verpflichtet fühlen, die unter Rauschverdacht stehende Religion durch nüchterne Ethik zu ersetzen." Anlass der flammenden Philippika des Berliner Blattes ist der Politstreit in der Hauptstadt um die Unterrichtsfächer Ethik und Religion.

Die bedrohliche Erscheinung, der deutsche Medien zurzeit mit Verve begegnen, heißt Atheismus. Vor allem in seiner Ausprägung als "aggressiver missionarischer Atheismus", wie ihn der deutsche Kurienkardinal Walter Kasper ausgemacht hat. Eine rhetorische Kerbe, in die diverse Autoren dieser Debatte offenbar mit Vergnügen hauen. So der britische Philosoph John Gray in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ): In den westlichen Ländern agiere derzeit "ein missionarischer Atheismus, wie es ihn seit viktorianischen Zeiten nicht mehr gegeben hat".

Doch wo findet es statt, dieses Missionieren, ob nun mehr oder weniger aggressiv? Machen die Atheisten in den Fußgängerzonen der Städte mittlerweile den Zeugen Jehovas oder Scientology das Terrain streitig? Rotten sich die Gottesleugner (griechisch: atheos = ohne Gott) vor den Kirchen zusammen und behelligen friedliche Gläubige? Stürmen sie Fernsehstudios, um das "Wort zum Sonntag" durch die Lästerung des Herrn zu ersetzen?

Allein der Umstand, dass es sich beim Atheismus - abgesehen von ein paar mitgliederschwachen Vereinen - um keine organisierte Bewegung, sondern um eine eher individuelle Geisteshaltung handelt, die im Unterschied zur Religion keiner rituell-zeremoniösen Infrastruktur bedarf, macht die Absurdität des Missionierungsvorwurfs deutlich. Hinzu kommt, dass in Deutschland die Medien eingebunden sind in ein über Jahrzehnte gewachsenes religiös-kirchliches Einflusssystem, das vor allem die beiden Großkirchen beherrschen. Deren direkte Interessenvertretungen in öffentlich-rechtlichen Medienanstalten werden im privatkapitalistischen Bereich ergänzt durch offene ideologisch-kommerzielle Zweckbündnisse wie das zwischen "Bild"-Zeitung und Vatikan sowie eine insgesamt christlich-kirchenkonforme redaktionelle Tendenzhaltung.

Was hat dem ein Atheismus entgegenzusetzen, der sich vornehmlich in Büchern artikuliert? Denn um Bücher und ihre Autoren geht es, wenn gegen "eifernden Atheismus" und "fanatische Atheisten" (Gray) gewettert wird: "Der Gotteswahn" von Richard Dawkins (Großbritannien), "Der Herr ist kein Hirte" von Christopher Hitchens (Großbritannien/USA), "Das Ende des Glaubens" von Sam Harris (USA), "Wir brauchen keinen Gott" von Michel Onfray (Frankreich), um einige der hierzulande erfolgreichen Titel zu nennen.

Bezeichnenderweise finden deutsche Autoren mit ihren durchaus ebenbürtigen Arbeiten zu dieser Thematik in Deutschland entweder nur kleine Verlage oder sie müssen die Herausgabe gar in sogenannten Autorenverlagen selbst finanzieren. Ein Beispiel für den ersten Fall ist das Buch "Gott? Das Ende einer Idee" von Ernst Friedrich Salcher, in dem der Philosoph und Psychologe mit plausiblen natur- und geisteswissenschaftlichen Argumenten die Gottlosigkeit begründet. Für den zweiten Fall steht der Band "Papst-Entzauberung" von Hubertus Mynarek. Der renommierte Religionswissenschaftler zerpflückt darin unter anderem brillant das besonders von Benedikt XVI. bemühte Konstrukt der angeblichen Untrennbarkeit von Vernunft und Glaube. Dass deutsche Großverlage bei der brisanten Thematik Religionskritik / Atheismus nichtdeutsche Autoren vorziehen, hat zweifellos mit der Furcht vor dem Risiko zu tun, sich durch dezidierte Auseinandersetzungen mit den deutschen Zuständen den Unmut der Kirchen und ihrer politischen Lobby zuzuziehen. Die wachsenden wirtschaftlichen Aktivitäten der Kirchen im Verlagswesen tun ein Übriges, den publizistisch wahrnehmbaren Widerstand gegen die Verfilzung Staat-Kirche in überschaubaren Grenzen zu halten. Eine Zensur findet nicht statt - weil sie schlicht unnötig ist. Nichtsdestotrotz eskaliert der kalte Krieg um Gottes Leere. Und bereits die in "Gotteswahn" und Co. geäußerten allgemeinen Ansichten treiben die Apologeten auf die publizistischen Barrikaden. So fragt (sich) FAZ-Autor Bernhard Dressler, woher denn eigentlich der "stupende Erfolg" von Dawkins' Bestseller komme: "Angesichts der über weite Strecken zugleich platten und eifernden Argumentation dieses Buches könnte man einen elementaren Mangel an religiöser Bildung bei großen Teilen des Lesepublikums vermuten."

Während hier nicht nur der Verfasser, sondern auch gleich die Leserschaft mit geschmäht wird, wirft der Rezensent der "Welt", der katholische Theologe Manfred Lütz, dem Briten Dawkins "naives Wissenschaftsverständnis" vor. Dessen Sicht als Evolutionsbiologe erinnere "bisweilen fatal an einen Wahn oder zumindest an Fundamentalismus". Am Ende stünden "zynische ethische Folgerungen" im Hinblick auf behinderte Kinder und Alzheimerpatienten, die "Relativität moralischer Kategorien" und ein "Intelligenzrassismus". Das alles sucht der Leser in besagtem Buch zwar vergebens, aber im Interesse der Sache (Gottes) kann man schon mal dick auftragen. Der bereits erwähnte Philosoph Gray moniert bei Dawkins, dieser widme sich "vor allem der realen Unterdrückung, die von Religionen praktiziert wird". Weniger Aufmerksamkeit schenke er "der Tatsache, dass einige der brutalsten Verbrechen der neueren Zeit von Regimen verübt werden, die Gräueltaten mit wissenschaftlichen Erkenntnissen begründeten". Gray nennt als Belege dafür "die Rassenlehre der Nationalsozialisten" und den "dialektischen Materialismus der Sowjets". Meist kommen noch Mao Tse-tung und Pol Pot hinzu, um dieses Totschlagargument gegen den Atheismus zu komplettieren. Geflissentlich verschwiegen wird dabei, dass neben der religiösen oder areligiösen Rechtfertigung eines Herrschaftssystems noch eine Vielzahl weiterer Faktoren politischer, ökonomischer, kultureller und anderer Prägung existieren. Zudem kann der Fundamentalismus einer "materialistischen" Pseudoreligion ebenso verheerend wirken wie ein dem "wahren" Gottesglauben entsprungenes Wahnsystem. Welche zerstörerischen Folgen die längst zur Götzenanbetung verkommene Ideologie der Marktwirtschaft für die Gesellschaft hat, zeigt der aktuelle Armutsbericht der Bundesregierung. Unbestreitbar ist wohl auch, dass die USA mit dem "wiedergeborenen Christen" Bush an ihrer Spitze und einer zunehmenden Durchtränkung aller Institutionen mit religiöser Inbrunst nicht gerade eine Periode besonderer Liberalität und Toleranz nach innen wie außen durchleben.

Ein anderes Geschütz positioniert die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (FAS). Alexander Kissler greift die Debatte um das atheistische Kinderbuch "Wo bitte geht's zu Gott?, fragte das kleine Ferkel" auf, über das wegen Antisemitismusverdachts die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften befinden musste. Diese wies den Vorwurf zurück, was den FAS-Autor nicht davon abhält, über "die Nachtseite einer atheistisch zugespitzten Aufklärung" zu fabulieren. Das "Credo innerhalb einer breiten Strömung des Neoatheismus" heiße: "Das Böse kam von den Juden." Die Argumentation, die den "Neoatheisten" unterstellt wird, ist so schlicht wie perfide: "Ohne Judentum kein Christentum und kein Islam, ohne Judentum kein Separatismus, ohne Separatismus kein Übel, keine Gewalt, keine Explosion des Bösen." Damit ist bei der Kritik monotheistischer Religionen der Antisemitismus programmiert. Ergo: Die Gottesleugner sollen sich gefälligst zurückhalten, denn "der Weg von der Religionskritik zum Antisemitismus war schon immer kurz", wie es in der FAS ebenso kurzschlüssig heißt. Keine Rede, dass es der Antijudaismus katholischer wie evangelischer (Luther) Provenienz war, der dem Antisemitismus mit den Weg bereitete.

Der Hamburger Theologe Paul Schulz verweist in "Codex Atheos - Die Kraft des Atheismus" darauf, dass der Begriff "Atheist" seit 2500 Jahren als Waffe eingesetzt wurde "zur Diffamierung aller, die ohne Gott denken und leben". Zugleich gründe der abendländische Atheismus im säkularen Vernunftdenken der Antike, das eine vom Gottesglauben freie ethische Tradition entwickelte, lange bevor Paulus das Christentum erfand.

Die Essenz der Diffamierungen des Atheismus besteht darin, dass ohne den Glauben an eine höhere Macht - und die entsprechende Furcht vor dieser - der Mensch zu moralisch angemessenem Verhalten unfähig sei. Diese Sichtweise ignoriert nicht nur wesentliche Traditionen der Geistesgeschichte, sondern denunziert zugleich rund 1,1 Milliarden nichtreligiöse Menschen respektive - auf Deutschland bezogen - 23,4 Millionen Bürger, denen damit sittliches Denken und Handeln de facto abgesprochen wird. Und wehe dem Gemeinwesen, wenn solche Menschen Zugang zu verantwortlichen Positionen in Staat und Gesellschaft bekommen! Meist wird diese anmaßende Warnung verhüllter formuliert, als sie der rechtskonservative Philosoph Günter Rohrmoser verkündet: "Wenn die Macht in die Hände von Leuten gelegt wird, die nichts Höheres über sich anerkennen und denen also nichts heilig ist, dann sind wir verloren. Denn diese Politiker sind grundsätzlich zu allem im Stande."

Wie tief solch bizarre Sicht politisch verwurzelt ist, zeigt der Deutsche Bundestag. Von den 612 Abgeordneten sind 208 evangelisch und 183 katholisch. 26 bezeichnen sich als konfessionslos, 4 sind Muslime - und 1 (in Worten: eine) Frau bekennt sich offiziell als Atheistin: Simone Violka (SPD) aus Sachsen.

Nun kann man gewiss davon ausgehen, dass unter den 190 Volksvertretern, die keine Auskunft über ihre Konfession gaben, etliche Atheisten sind. Dass Politiker im "Kirchenstaat" Deutschland eine solche Bezeichnung vermeiden, ist so verständlich wie erschreckend. Eine Interessenvertretung für diesen diskreditierten Stand erweist sich somit im Bundestag als überflüssig. Dafür hat jede Fraktion ihren Kirchen- und Religionsbeauftragten. Was ja angesichts der als Wiederkehr der Religion euphemisierten Gegenaufklärung parlamentarisch-demokratischen Sinn macht. Und alle fünf Beauftragten gehören - wie überraschend - jeweils einer der beiden christlichen Großkirchen an. Adenauer wäre gewiss zufrieden mit der gelungenen "Rückkehr zum christlichen Denken".


Allein Gott, das höchste Gut, bildet die unverrückbare Grundlage und unersetzbare Voraussetzung der Sittlichkeit, also der Gebote, im Besonderen jener negativen Gebote, die immer und auf jeden Fall die mit der Würde jedes Menschen als Person unvereinbaren Verhaltensweisen und Handlungen verbieten.
Papst Johannes Paul II.
Enzyklika 'Veritatis splendor' (Der Glanz der Wahrheit)

In meinen Augen muss es um die Selbstachtung schon sehr schlecht bestellt sein, wenn man meint, der Glaube an Gott müsse nur aus der Welt verschwinden, und schon würden wir uns alle in gefühllose, egoistische Hedonisten verwandeln, die keine Freundlichkeit besitzen, keine Nächstenliebe, keine Großzügigkeit, nichts, was den Namen des Guten verdient.
Richard Dawkins 'Der Gotteswahn'


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Quelle:
Ingolf Bossenz, Mai 2008
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 31.05.2008


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2008