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STANDPUNKT/048: Religion - Fehlläufer oder Erfolgsstory der Evolution? (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 4/10

Religion: Fehlläufer oder Erfolgsstory der Evolution?

Von Andreas Kilian


Sind Religionen Nebenprodukte der Evolution, biologische Adaptionen oder doch nur "virale" bzw. "symbiontische" Meme. Unabhängig davon, worauf sie letztendlich beruhen, lassen sich Annahmen darüber treffen, ob und unter welchen Bedingungen sie ein Fehlläufer oder eine Erfolgsstory der Evolution sind.


Ein Aufschrei hallte durch die Reihen der Religionskritiker. Susan Blackmore - langjährige Mitstreiterin von Richard Dawkins und Verfechterin der Theorie der Meme - schwor ihrer Überzeugung ab, dass es sich bei dem Phänomen Religion um "virale" Meme handeln würde. Auf der Konferenz Explaining Religion in Bristol wurde sie mit Daten des Religionswissenschaftlers Michael Blume konfrontiert, die sie davon überzeugten, dass Religionen keineswegs nur viral seien. Daher vergleicht sie das Phänomen jetzt eher mit Bakterien oder Symbionten, die sowohl für den Wirt als auch für den Erreger einen Gewinn darstellen. [1] Letztendlich hätten für sie nur die wissenschaftlichen Fakten gezählt und die sagen eindeutig, dass religiöse Menschen mehr Kinder haben und sich glücklicher fühlen. Und was sich erfolgreich vermehrt und weltweit ausbreitet, ist für die Psychologin eine Erfolgsstory in der Evolution.

Daher würden einige Theologen und Religionswissenschaftler die biologische Spezies Mensch am liebsten in Homo religiosus umtaufen. [2] Dies ist zwar etwas übertrieben, weil der Neurologe Kevin A. Nelson sowie die Forscherin Jane Godall spirituell anmutende Verhaltensweisen auch bei Tieren beobachten konnten und aufgrund der Analogien im funktionalen Aufbau der Säugetiergehirne davon ausgehen, dass auch einige Tierarten spirituelle Erlebnisse haben können. [3] Aber man muss die Fakten akzeptieren, dass es mehr Menschen mit Neigung zum Religiösen gibt, als sogenannte Atheisten. Menschen lassen sich also hinreißen oder anstecken! Aber wovon bzw. womit eigentlich?

Leider gibt es bis heute keine allgemein anerkannte wissenschaftliche Definition des Phänomens Religion. [4] Da darf man sich schon fragen, was Religionswissenschaftler in die Ergebnisse interpretieren, wenn sie nicht sagen können, was sich da pandemisch ausgebreitet haben soll. Im besten Falle wird von Religiosität gesprochen, welche ein "Glauben an übernatürliche Akteure" sein soll. Sicher sind sich die Religionswissenschaftler nur darin, dass die wissenschaftliche Redlichkeit von Susan Blackmore dafür gelobt werden muss, dass sie ihre Irrtümer aufgibt, der Fehllehre abschwört sowie den heilsbringenden Nutzen der Religionen endlich anerkennt. Dies ist ein guter Grund, sich die sogenannten "Irrtümer" einmal genauer anzuschauen.


Ist Vermehrung ein evolutiver Vorteil?

Vermehrung ist eine Strategie, damit sich Gene, die unter den aktuellen Lebensbedingungen zu positiven Merkmalen führen, möglichst schnell in einer Population ausbreiten können. Wer mehr Kinder hat und sich vermehrt, der wird seine Gene statistisch schneller ausbreiten als jemand, der sich nur fortpflanzt. Existieren ausreichend Ressourcen, so wird er seine Nachbarn aber wahrscheinlich nicht verdrängen oder umbringen, sondern die Nachfahren werden sich untereinander zu kreuzen. Es überleben also alle Genlinien, wobei die folgenden Generationen aber um das "positive" Gen erweitert werden. Als Strategie ist die Vermehrung evolutiv wesentlich älter als jede Religion. Unter limitierenden Umweltbedingungen setzt Vermehrung aber das Sterben von "weniger vorteilhaften" Nachkommen voraus.

Fazit: Sollten die Religionswissenschaftler Recht haben und Religion ist die Ursache einer erhöhten Reproduktionsrate beim Menschen, so ist Religion auch die Ursache für eine katastrophale Überbevölkerung der Erde sowie für den Tod von Abermillionen Kindern. Das Argument des evolutiven Vorteils gilt nur unter definierten Umweltbedingungen und nur für einzelne Individuen. Die Eiszeit ist aber vorbei. Ändern sich die Zeiten, so wäre dieser sogenannte Vorteil momentan der beste Grund, die religiösen Menschen zur Verantwortung zu ziehen und in ihre Schranken zu weisen. Religionen wären heute nicht mehr verantwortbar.


Kann Religion die Ursache einer höheren Fortpflanzungsrate sein?

Einige Wissenschaftler argumentieren damit, dass Religionen zu einem Reproduktionsvorteil führen können. [5] So zeigen internationale Studien, dass Menschen, die sich selber als religiös bezeichnen, im Durchschnitt mehr Kinder haben, als Menschen, die sich als nicht religiös einstufen. [6] Das weltweite Vorkommen von Individuen, die religiös sind, spricht auch auf den ersten Blick für dieses Argument des selektiven Vorteils. Die wissenschaftlich korrekten Fragen müssen aber zunächst lauten: Ist religiöses Verhalten die direkte Ursache einer erhöhten Reproduktion der Menschen? Oder haben Religion und Reproduktion gemeinsame Ursachen? Oder ist Religion eine Folge des angestrebten höheren Reproduktionserfolges?

Schätzungen gehen davon aus, dass pro Jahr circa 1.000 Sekten neu entstehen und andere dafür wieder verschwinden. Die Intensität des Glaubens allein scheint nicht den Fortbestand einer Glaubensgemeinschaft zu sichern.

Manche religiöse Gruppen, wie die Amish, legen Wert auf Kinderreichtum, andere Gruppen, wie die Neo-Sannyasin oder Sufis, eher weniger. Ob in einer Religionsgemeinschaft im Durchschnitt mehr Kinder geboren werden, hängt auch davon ab, was die Glaubensinhalte dazu sagen. Die Religion als solches oder die Religiosität der Mitglieder können daher nicht die alleinige Ursache für erhöhte Reproduktionsraten sein.

Wird eine "reproduktionsfreundliche" Religion im Detail betrachtet, so fällt auf, dass sich der Kinderreichtum recht heterogen verteilt. Ginge es nach der Intensität des Glaubens oder der Religiosität, so müssten Mönche, Nonnen, Priester und Ehrenamtliche in der reproduktiven Statistik weit oben stehen. Es sind aber meistens in der Gemeinde religiös engagierte Laien, die sich vieler Kinder erfreuen. Andere Mitglieder, wie Arme, Alleinerziehende oder berufstätige Frauen haben manchmal mit Repressalien zu rechnen, die sie daran hindern, mehr Kinder zu bekommen. Manche Frauen, wie Ammen, müssen die Laktation ihrer eigenen Kinder hinten an stellen, um anderen Frauen einen höheren Reproduktionserfolg zu sichern. Es ist also weniger die Intensität des Glaubens, die sich im Kindersegen niederschlägt, sondern einzelne Individuen nehmen sich Vorteile auf Kosten anderer und nutzen die religiösen Vorstellungen, um ihr Verhalten zu rechtfertigen.

Fazit: Unter denen, die Kinder haben, mag die Intensität der Religiosität eine Rolle spielen. Werden auch kinderlose Mitglieder der Gemeinde mit in die Rechnung aufgenommen, so ist die simplifizierende Formel "religiöse Intensität proportional Kinderreichtum" wissenschaftlich nicht zu halten.


Gemeinsame Ursachen für Religionen und Kinderreichtum

Als biologisch plausibel kann die Annahme gelten, dass Religiosität und höhere Fortpflanzungsrate eine oder mehrere gemeinsame Ursachen haben. So waren im Pleistozän die Flächen der Territorien und somit die Ressourcen, die zum Überleben notwendig waren, begrenzt. Jedes neue Mitglied des Stammes trat mit seiner Geburt in Konkurrenz zu den anderen Kindern und älteren Mitgliedern seines Clans, was sich unter härteren Lebensbedingungen in Aggression, Stress und Hungertod oder Infantizid niederschlagen konnte. Eine Egoistin tat also gut daran, erst einmal Allianzen zu schmieden, um sich der Hilfe und des Beistandes anderer Gruppenmitglieder sicher zu sein. Wer mehr Kinder als alle anderen wollte, der brauchte auch mehr Ressourcen, Hilfe und Rückhalt in der Gruppe. Und wer bietet sich für Hilfe und Unterstützung besser an, als jene, die sich offiziell zum Kinderreichtum der Mütter bekennen. Egoisten suchen den Schutz unter Gleichgesinnten. Die Taufe ist daher weniger für die Kinder, als vielmehr für die Mütter das Ereignis, mit dem die Gemeinschaft die Vollmitgliedschaft und die Unterstützung für ihre Kinder zusichert. Und dies wird nach den Jahren mit der höchsten Kindessterblichkeit und vor dem Eintreten der Geschlechtsreife noch einmal mit der Firmung, Kommunion bzw. Iniation bestätigt. Die Gruppenmitglieder müssen die Paarbeziehung, die Kopulationen, die Kinder sowie deren Versorgung durch ihre Zustimmung "absegnen". Damit wird der Mutter bestätigt, dass sie ein Verhalten in der Gruppe zeigen darf, welches andere Mitglieder noch lange nicht zeigen dürfen.

Egoismus und Angst vor den Artgenossen führen zu Umsicht, Vorsicht und zur Planung, die sich sowohl in irdischen Allianzen als auch in der Hoffnung auf die Hilfe der Götter niederschlägt. Und wer weiß, dass er unehrlich gegen seine eigenen Artgenossen antritt, um sich Vorteile zu verschaffen, der muss sich die Hilfe von sehr starken Partnern erhoffen oder mit starken Partnern argumentieren.

Fazit: Es ist biologisch plausibler, dass Religionen und Religiosität nicht die Ursache einer erhöhten Reproduktionsrate sind. Dennoch arbeiten hier Gruppen von egoistischen Gleichgesinnten gegen Artgenossen, die sich nicht die gleichen Vorteile herausnehmen sollen. Es fängt mit der Diskriminierung von Alleinerziehenden an, geht über die Benachteiligung von nicht-ehelichen Kindern und rechtfertigt die Armut derer, die am besten gar nicht erst an der Fortpflanzung teilnehmen sollen. Auch in diesen Fällen ist Religion heute als Rechtfertigung von Ungleichverteilungen abzulehnen.


Was soll die genetische Basis von Religionen sein?

Eine biologische Adaption muss drei Kriterien erfüllen. Sie muss vererbbar sein, also auf Genen basieren. Sie muss einen Vorteil in der Evolution dargestellt haben und sie muss für die ersten Träger dieser Gene ein dringendes Problem gelöst haben, welches somit zum Selektionsfaktor wurde. Da Evolution immer an den Genen eines Individuums ansetzt, muss eine vererbbare Eigenschaft immer rein individuell sein. Genetisch vererbbar kann also nur die anatomische und funktionale Voraussetzung zur Spiritualität sein, wenn Spiritualität als rein individuelle Eigenschaft definiert wird, durch neuronale Module und ich-bezogene Denkschemata [7] etwas sogenanntes Transzendentes in die Gedankenwelt und Umwelt hinein zu interpretieren. Religion fängt dort an, wo man sich über seine Illusionen mit anderen austauscht und sich auf artifizielle Vorstellungen vom vermeintlich Gesehenen oder Gedachten einigt. Sie basiert auf einem Lernprozess und der Fähigkeit zur Sprache. Religiosität kann als Spiritualität verstanden werden, die nach artgerechter Bestätigung sucht. Wobei neben Gestik und Mimik vor allem Rituale verwendet werden, die für diesen Kontext ausprobiert und erlernt werden. Sowohl Sprache als auch Gestik, Mimik und artübliche Rituale sind in der Evolution für andere Zwecke positiv selektiert worden und werden für religiöses Verhalten lediglich mit verwendet. Religion und Religiosität können daher keine evolutionären Adaptionen sein. Sie werden kulturell, also parallel zur Genetik tradiert.

Ein weiterer Begriff, der in diesem Zusammenhang genannt und aus der Anatomie und Morphologie ausgeliehen wird, ist der der Exaptation. [8] Hierbei wird eine ursprünglich adaptierte Eigenschaft für eine andere Funktion kreativ zweckentfremdet. So wurde aus unserem Vorderbein ein Greifarm für die Äste und mit dem aufrechten Gang eine freie Hand, die sowohl beten als auch morden kann. Die neue Interpretation liegt bei multifunktionalen Organen jedoch recht stark im Auge des Betrachters und der übersieht häufig die adaptiven Zwischenschritte. Insbesondere die funktionalen Voraussetzungen zur Spiritualität, die neuronalen Module oder Operanten, sind in der Evolution positiv selektiert worden, weil sie eine höhere individuelle Anpassungsfähigkeit ermöglichten. Ihr evolutiver Vorteil liegt gerade darin, dass sie sich aufgrund ihrer variablen Einsatzfähigkeit gerade eben nicht auf eine vermeintliche neue einzelne Funktion festlegen lassen. Gegen eine Exaptation würde zudem sprechen, dass die Areale eventuell immer noch die alten Funktionen beibehalten haben. Es hätte folglich gar kein biologischer Wechsel stattgefunden, sondern maximal eine erlernte Funktionserweiterung.

Ein weitere Möglichkeit der Adaption ist die Vernetzung mehrerer Gene mit unterschiedlichen Aufgaben durch ein Steuer- oder Zeitschaltgen. Ein bereits bekanntes Schaltgen ist FOXP2, welches die Qualität der menschlichen Sprache maßgeblich mitbestimmt. Mit ihm werden die Lernphasen für den Spracherwerb mit der Entwicklung der Hals- und Mundmuskulatur, der Atmung sowie dem Aufbau von Sprachzentren im Gehirn synchronisiert und neuronal abgestimmt. Eine Dysfunktion des Gens führt zu erheblichen Sprachschwierigkeiten, [9] weil der synchrone Einsatz aller notwendigen Fähigkeiten nicht gewährleistet ist. [10] Wird ein solches Schaltgen für die Fähigkeit zur Spiritualität angenommen, so müsste zumindest in einer definierten Altersklasse bei allen Menschen die Fähigkeit für "spirituelle" Erfahrungen vorkommen. Ein solches Gen konnte aber bis heute nicht gefunden werden. Würde es gefunden, so wäre der evolutive Vorteil dieser Mutation für die ersten Träger dieses Gens zu identifizieren. Dieser Vorteil müsste zunächst rein individuell gewesen sein. Denkbar wären hier "Geister" und "Ängste", um einen ersten Kontakt mit Raubtieren zu vermeiden, ohne auf diese treffen oder etwas über ihr Aussehen erfahren zu müssen. Also ein angeborenes Lernprogramm, ohne sich einer gefährlichen Lernsituation aussetzen zu müssen. Eine solche Lernphase würde dann allerdings auch wieder abgeschlossen werden. Zurück bliebe das Gefühl der Angst vor Orten und Situationen, wo wir Raubtiere und Feinde vermuten, sowie das resultierende Vermeidungsverhalten.

Basieren Religiosität und Religion auf einer solchen genetisch bedingten Lernphase in der Jugend, so benutzen sie Indoktrination, um die Ängste vor solchen "Geistwesen" zu vertiefen und lebendig zu halten. Es liegt somit ein Gebrauch bzw. Missbrauch von biologischen Programmen vor, um die Ziele der jeweiligen Religion durch Manipulation der Mitglieder verwirklichen zu können.

Auf den ersten Blick sieht es jetzt so aus, als ob es sich bei diesem Gebrauch bzw. Missbrauch um eine kognitive Exaptation einer älteren Adaption handeln könnte. Hiervon kann aber erst gesprochen werden, wenn die neue Funktion 1. von alleine eintreten kann, 2. wenn sie Vorteile für die Träger aufweist, und 3. wenn, wie bereits gesagt, die alte Funktion nicht mehr ausgeübt wird. Wir sehen aber als Kinder immer noch Geister und Monster unter dem Bett, weil die alten Softwareprogramme noch aktiv sind. Und die Befreiung von Höllenängsten, die uns vorher durch die Glaubensinhalte der jeweiligen Religion nahe gelegt wurden, sind kein biologischer Vorteil für uns, sondern für diejenigen, die uns damit manipulieren können.

Fazit: Es ist sehr wahrscheinlich, dass es eine biologische Software gibt, die uns vermehrt Sachen und Zusammenhänge sehen lässt, um uns in der Ontogenese durch "unbewusstes Lernen" zu unterstützen. Das "Gesehene" sind aber keine Geister oder Götter, sondern visualisierte Konzepte, die so evolviert sind, dass sie Einfluss auf unsere Psyche und unser Verhalten nehmen können.

Die Interpretation vieler Religionen, dass die "gehörten Stimmen" und deren "Verursacher" außerhalb des menschlichen Gehirns zu suchen seien, ist allerdings eine nicht nachweisbare und sehr unwahrscheinliche Interpretation. Auch der Sammelbegriff des "einzigen Gottes" ist unangebracht, weil es sich evolutionsbedingt um individuelle Visionen handelt, die variieren können und müssen. Menschen, die die natürlich entstandene Spiritualität und die Ängste ihrer Mitglieder zweckentfremdet benutzen, um sich persönliche Vorteile oder lebenslang ein Gehalt zu verschaffen, praktizieren eine Form des "Parasitismus". Ein Kommentar zu dieser Art von Religion erübrigt sich.


Neurotheologie

Unter Neurotheologie werden Versuche verstanden, religiöse Phänomene neuro-physiologisch zu interpretieren. Dies wirft zwei Fragen auf. Was sind religiöse Phänomene a priori, ohne dass ein religiöser Zusammenhang nachträglich in die Ergebnisse hineininterpretiert wird? Was bedeutet dies für die Götter?

Haben Menschen aufgrund von neuro-physiologischen Experimenten oder Drogen Visionen, so sehen sie meistens Phantasien, die sie hinterher als Götter, als Wesen oder als "Existenz" beschreiben. Christen sehen in solchen Experimenten häufig Jesus oder Gott, weil sie als Kinder mit Jesus- oder Gottesbildern aufgewachsen sind. Hinduisten sehen in der Regel hinduistische Götter, weil sie als Kinder häufig solche Bilder zu sehen bekommen haben. Atheisten fühlen sich in solchen Experimenten im Einklang mit dem Universum. Dass ein christliches Kind einen ihm bisher unbekannten hinduistischen Gott im Experiment erblickt, ist noch nie beobachtet worden. Und auch der umgekehrte Fall, dass sich Jesus unaufgefordert einem Hinduisten offenbart hat, ist noch nicht gemeldet worden.

Neurotheologie zeigt uns also, dass unser Gehirn in bestimmten Arealen Visionen, Phantasien und auch durchaus personalisierte Vorstellungen durch chemische und elektromagnetische Reize generieren kann, und welche Begriffe wir verwenden müssen, um das "Gesehene" für andere verständlich zu machen. Solche Ergebnisse sind für Theologen sehr aufschlussreich. Es würde bedeuten, dass manche Menschen aufgrund ihrer genetischen Voraussetzung oder der individuellen funktionalen Gehirnstruktur gar nicht in der Lage wären, Gott, seine Avatare oder die Propheten zu erkennen oder zu verstehen. Der Nachweis eines "Religionsgenes" wäre auch der Nachweis von der Ungerechtigkeit, Unwissenheit oder Vergesslichkeit eines sogenannten allmächtigen und allwissenden Gottes. Ein Paradies für Auserwählte, nur weil sie die richtigen Gene hätten, käme einem göttlichen Rassismus gleich.

Fazit: Kirchen, Gemeinden und Theologen, die Religionen und Offenbarungen als Erlösung ansehen, tun sich selber keinen Gefallen, wenn sie in religionswissenschaftliche Forschungen investieren, die beweisen können, dass ein großer Teil der Menschheit aufgrund seiner Erbanlagen und Gehirnstruktur gar nicht zu erlösen ist. Religionswissenschaftler, die sich mit der Evolution der Religiosität beschäftigen, bringen die Kirchen in arge Erklärungsnot.


Was ist nun Religion?

Unabhängig davon, was Spiritualität oder die genetische Ursache von Spiritualität ist, fängt Religion erst damit an, dass sich Menschen über ihre Eindrücke unterhalten und sich auf etwas einigen. Sie basiert auf einer Argumentationsebene, um sich biologische Vorteile zu sichern. Religion ist daher - biologisch gesehen - eine durch egozentrierte, neuronale Module hervorgerufene Erschaffung, individuelle Bereitstellung und tradierte Aufrechterhaltung einer nichtlogischen und nicht-überprüfbaren Argumentationsebene, um seine individuellen Egoismen mit und gegen seine Gruppenmitglieder durchsetzen und befriedigen zu können. [11]

Fazit: Wird Religion als Argumentationsebene verwendet, um mit dem Willen Gottes - "Deus vult" - das ultimative Totschlagargument für seinen eigenen Egoismus zu besitzen, dann braucht nicht mehr über die gesellschaftliche Rechtfertigung von Religionen diskutiert zu werden. Es gibt keine Rechtfertigung für eine unredliche Argumentationsebene.


Susan Blackmores Interpretation

Susan Blackmores Interpretation von bakteriellen oder symbiontischen Memen geht einen Schritt weiter und spricht dem Mem ein Eigenleben zu. Die Vergleiche mit Viren, Bakterien oder Symbionten sind zwar sehr werbewirksam und einprägsam, aber letztendlich doch nur Wortspielereien, die auf Analogien hinweisen sollen. Um einen passenden Vergleich zu finden, muss die Frage lauten: Können Wirt und Erreger, Mensch und Religiosität, unabhängig voneinander überleben? Die Existenz von Atheisten beweist schon, dass es weder eine biologische Notwendigkeit zur Religiosität gibt, noch die Überlebensfähigkeit eines Mems außerhalb des Überträgers oder der von ihm benutzten Medien. Der Vergleich von Richard Dawkins mit Viren ist daher etwas treffender, auch sie können sich als Lebensformen nicht ohne Wirt replizieren. Die Archäologie zeigt zudem eine weitere Analogie zu Viren, nämlich dass religiöse Meme außerhalb des Trägers nicht beliebig lange überdauern können, ohne in Vergessenheit zu geraten.

Aber viral bedeutet noch nicht virulent oder infektiös. Stellt man sich einen Hokus-Pokus-Priester vor, so wird deutlich, dass uns viele Glaubensinhalte vollkommen lächerlich erscheinen. Selbst "virale" Meme können uns nicht einfach "anstecken". Vorher muss unser psychologisches Immunsystem durch Autorität und Indoktrination in der Kindheit zerstört werden. Ansonsten lassen sich viele Glaubensinhalte im Erwachsenenaltcr nicht mehr vermitteln.

Meme mit religiösen Inhalten sind daher nicht einmal mit einer Lebensform zu vergleichen. Es sind Lerninhalte, die uns durch die Vorspiegelung einer falschen Umwelt eingetrichtert werden. Aber die relevante Frage ist weniger, was der treffende Vergleich zu diesen Memen ist, sondern: Wie verhält sich der Mensch, wenn ihm ein solches Mem implantiert wurde?


Ist religiöses Verhalten überhaupt ethisch vertretbar?

Von einem Homo religiosus zu sprechen, wie es manche Religionswissenschaftler tun, ist nicht nur etwas übertrieben, es ist biologisch als Artbezeichnung nicht zu rechtfertigen. Auch Kriege, Vergewaltigung, Mord und Lügen haben ihren Ursprung in unserer Entwicklungsgeschichte und treten trotz aller Verbote und Strafen in jeder Generation immer wieder von Neuem auf. Niemand würde behaupten, dass diese Eigenschaften eine Existenzberechtigung hätten, nur weil sie biologischen Ursprungs sind. In der Ethik hat es sich längst rumgesprochen, dass man vom biologischen "Ist" nicht auf das "Sollen" schließen kann. [12] Dies ist nicht nur ein naturalistischer Fehlschluss, sondern schlichtweg Biologismus. Religionen müssen nicht akzeptiert oder toleriert werden, nur weil sie Religionen sind. Aber auch der kulturistische Fehlschluss ist nicht zulässig. Nur weil wir uns die Welt so friedlich wünschen, muss sie noch lange nicht so friedlich werden können, wie es die Avatare versprechen und ihre Mitstreiter mit Gewalt zu erreichen versuchen. Auch hier genießen Religionen als Vermittlerinnen von unrealistischen Wunschvorstellungen keine Rechtfertigung.

Wird von der Behauptung ausgegangen, dass Religionen als Meme biologische Vorteile haben, so bedeutet dies auch, dass es Gewinner und Verlierer geben wird. Religionen bieten Rechtfertigungen und Ausreden für Konkurrenzdenken, Wettbewerb und Selektion. Wer mehr Kinder als andere hat, der vermehrt sich in einer begrenzten und an Ressourcen limitierten Welt auf Kosten anderer. Der postulierte biologische Reproduktionsvorteil - seid fruchtbar und mehret euch - ist eine Kriegserklärung gegen den Rest der Menschheit, der versucht vernünftig mit den Ressourcen dieses Planeten zu haushalten. Hier setzt sich ein pleistozäner Egoismus durch, der auf Quantität anstelle von Qualität setzt. Intelligenter Egoismus vertritt das Prinzip Eigennutz in Form des Altruismus, strebt Gleichgewichte an und versucht die Vielfalt zu erhalten.

Ob es sich bei den religiösen Glaubensinhalten um Lügen handelt, sagen uns die anderen Religionen. Von 100.000 Glaubensgemeinschaften sagen 99.999, dass die Glaubensinhalte der anderen Religionen nicht stimmen. Sie nennen sich gegenseitig Ungläubige, Ketzer, Häretiker, Abtrünnige, Sektierer usw. Bei einer solchen Statistik ist wohl davon auszugehen, dass die meisten Religionen nicht gerade die "Wahrheit" sagen. Ist Religion eine Sonderform der implantierten Lüge, um sich Vorteile gegenüber den Artgenossen zu erschleichen, so muss nicht lange diskutiert werden. "Deus vult" darf kein Argument zu Landraub, Mord und Krieg sein. Gottes Wort und offenbarte Schriften sind keine Rechtfertigungen, um Menschen zu steinigen, Bücher zu verbieten oder Frauen und Homosexuelle zu diskriminieren.

Ist die Entwicklungsgeschichte der Religionen nun eine Erfolgsstory oder ein Fehlläufer? Was sich in der Evolution durchgesetzt hat, sind die Egoisten und ihre Rechtfertigung für ihr Verhalten. [13] Sie sind es, die die Religionen als Argumentationsebene postulieren, tradieren, aufrecht erhalten und ihren Kindern implantieren, um damit ihre Mitmenschen zu manipulieren und zu kontrollieren. Egoisten nehmen sich Vorteile heraus und bescheren anderen Nachteile. Die Erfolgsstory gehört den Egoisten, die sich selbst und anderen etwas vormachen. Der Fehlläufer ist die Zukunftsblindheit, mit der im Namen der Religionen die Welt überbevölkert wird, sowie die falsche Weltsicht, die in der Kindheit implantiert wird, damit einige wenige Vorteile haben.

Wir müssen uns für die Zukunft entscheiden, ob wir weiterhin an der Evolution teilnehmen und uns gegenseitig selektieren wollen, oder ob wir dem Wettbewerb und der Konkurrenz ein Ende setzen und so die Selektion beenden. Manche Religionen warten dafür auf den Tag des Jüngsten Gerichtes und mischen bis dahin munter mit, um unter den "Letzten" zu sein. Humane Zeitgenossen fangen schon heute an, die Ursachen der Überbevölkerung anzugehen und reduzieren die Anzahl ihrer Kinder auf ein vernünftiges und vertretbares Maß. Das Prinzip des intelligenten altruistischen Eigenutzes zeigt sich in der Selbstbeschränkung.


Andreas Kilian ist Biologe und promovierte in theoretischer Biologie. Im Herbst 2010 erschien sein Buch Die Logik der Nicht-Logik. Wie Wissenschaft das Phänomen Religion heute biologisch definieren kann.


Anmerkungen:

[1] Blackmore, Susan: Why I no longer believe religion is a virus of the mind. In: Guardian vom 16.9.2010.

[2] Blume, Michael: "Homo religiosus". In: Gehirn und Geist 4/2009. S. 32-41.

[3] Nelson, Kevin R.: The Spiritual Doorway in the Brain (erscheint 2011).

[4] Bowker, John (Hrsg.): Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen. Darmstadt/Düsseldorf 1999; FigI, Johann (Hrsg.): Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen. Innsbruck/Wien/Göttingen 2003; Boer, Harald et al.: Der Brockhaus. Religionen, Glauben, Riten, Heilige. Mannheim/Leipzig 2004.

[5] Vaas, Rüdiger / Blume, Michael: Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt. Die Evolution der Religiosität. Stuttgart 2009.

[6] Blume, Michael: The reproductive benefits of religiosity. Empirical findings of Religion, Reproduction and female choice towards a sociobiology of Religion. International Conference "Trans-Cultural Universals: Biological Evolution of religiosity." Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK) - Institut for advanced Study, Delmenhorst, 27.-30. September 2007.

[7] Boyer, Pascal: Und Mensch schuf Gott. Stuttgart 2004.

[8] Gould, Steven J. / Vrba, Elizabeth S.: Exaptation - a missing term in the science of form. In: Paleobiology 8 (1982), S. 4-15.

[9] Enard, Wolfgang et al.: Molecular evolution of FOXP2, a gene involved in speech and language. In: Nature 418 (2002), S. 869-872.

[10] Kilian, A. E. and Müller, B. S.: Female hominid immigrants may have avoided conflicts by new language capacities. Joint International Conference on Cognitive Science, ICCS / ASCS-2003, Sydney, 13.-17. Juli 2003.

[11] Kilian, Andreas: Die Logik der Nicht-Logik. Wie Wissenschaft das Phänomen Religion heute definieren kann. Aschaffenburg 2010.

[12] Moore, George Edward: Principia Ethica. Cambridge 1903.

[13] Freedom House: Policing Belief: The Impact of Blasphemy Laws on Human Rights. Washington 2010.


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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 4/10, S. 31-38, 39. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Postfach 1745, 58017 Hagen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2011