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STANDPUNKT/051: Thomas Grüter - "Verschwörungstheorien sind sehr irdisch" (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 4/13

"Verschwörungstheorien sind sehr irdisch"

Ein Interview mit Thomas Grüter über die Untaten der Anderen



Für die meisten Menschen ist es eine historische Tatsache, dass 1969 eine Mondlandung stattfand und der erste Astronaut den Himmelskörper betrat. Der eine oder die andere hat die Bilder damals sogar im Fernsehen gesehen. Doch es gibt Leute, die dies bestreiten und behaupten, alles sei nur eine Inszenierung gewesen, kein Mensch habe den Mond je betreten, die amerikanische Regierung (oder die NASA) täusche die Öffentlichkeit in dieser Frage bis heute.


Auch für andere Ereignisse wie die Anschläge am 11.September 2001 existiert der Vorwurf einer Verschwörung, welche die tatsächlichen Ursachen für den Einsturz der Twin Towers vertuschen soll. Doch die Suche nach Schuldigen, die im Dunklen agieren, ist kein Phänomen der Gegenwart. Daniela Wakonigg unterhielt sich mit Thomas Grüter, der in seinem Buch Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer die Wirkungsweise von Verschwörungstheorien untersucht hat.



MIZ: Was ist eine Verschwörungstheorie?

Thomas Grüter: Eine Verschwörungstheorie ist im allgemeinen Sprachgebrauch jede Idee, dass Menschen sich heimlich verabredet haben, etwas Böses zu tun, Schaden anzurichten oder ein Verbrechen zu begehen.

MIZ: Wäre es schon eine Verschwörungstheorie, wenn ich sage: Ich glaube, der Bäcker um die Ecke tut heimlich Kakerlaken in die Brötchen?

Thomas Grüter: Ein solcher Verdacht ist noch keine Theorie. Von einer Theorie erwartet man ein gewisses Maß an Ausarbeitung und Struktur. Ich würde das erst einmal als Verschwörungsglaube bezeichnen. Darunter verstehe ich einen ganz allgemeinen Verdacht auf eine Verschwörung. Wenn Sie also denken, dass alle Parteien in Berlin sich ständig in Hinterzimmern absprechen, dann ist das ein Verschwörungsglaube. Die konkrete Behauptung, der Regierungschef habe sich mit dem Oppositionsführer abgesprochen, bestimmte Debatten nur zum Schein zu führen, um mehr Geld von Lobbyisten einzutreiben, ginge schon in Richtung einer Theorie.

MIZ: Gibt es so etwas wie die "Mutter aller Verschwörungstheorien"?

Thomas Grüter: Es gibt Verschwörungen, seit Menschen überhaupt in der Lage sind, sich untereinander abzusprechen. Theorien darüber, dass andere sich verschworen haben könnten, sind natürlich ähnlich alt. Eine "Mutter aller Verschwörungstheorien" müsste also sehr weit zurückgehen, viel weiter, als die schriftlichen Aufzeichnungen reichen. Wenn es sie je gegeben hat, ist sie heute verloren.

MIZ: Was sind im Augenblick so die gängigsten Verschwörungstheorien?

Thomas Grüter: Verschwörungstheorien nehmen immer die jeweiligen weltanschaulichen Gegner ins Visier, sie sind deshalb immer auf ein bestimmtes Milieu beschränkt. Die vielen Bücher, die zu beweisen versuchen, dass hinter dem Attentat auf das World Trade Center die amerikanische oder die israelische Regierung stecken, sind beispielsweise überall da verbreitet, wo der amerikanischen Regierung oder den Juden großes Misstrauen entgegenschlägt. In den USA selbst findet man eine tiefe Spaltung zwischen einer nationalistisch rechten Kultur und einer linksliberalen Kultur. Sie misstrauen einander zutiefst und unterstellen sich gegenseitig die finstersten heimlichen Absichten und Machenschaften.

MIZ: Wo liegen die Ursachen dafür, dass Menschen an Verschwörungstheorien glauben?

Thomas Grüter: Darüber haben sich schon viele kluge Leute Gedanken gemacht. Grundsätzlich gibt es natürlich überall Verschwörungen und deshalb auch Theorien darüber. Die zentrale Frage zum Verständnis des Phänomens ist aber: Warum suchen die Menschen die Verschwörer immer bei solchen Gruppen, die ihnen extrem unsympathisch sind?

Es ist nachgewiesen, dass Menschen und Menschengruppen grundsätzlich ein Misstrauen gegen Fremde hegen. Die Verschwörungstheorien könnten dann eine Rationalisierung dieses Gefühls sein. Man traut den Fremden jede Untat zu. Wenn sie nicht offensichtlich für ungeklärte Verbrechen oder plötzliche Katastrophen verantwortlich sind, dann vielleicht heimlich. Selbst völlig unglaubwürdige Vorwürfe können schnell an Popularität gewinnen, wenn die angeschuldigte Gruppe nur ausreichend unbeliebt ist.

MIZ: Und was ist denn das richtige Rezept für eine populäre Verschwörungstheorie?

Thomas Grüter: Um populär zu werden, muss eine Verschwörungstheorie die Vorurteile möglichst vieler Menschen genau ansprechen. Je unheimlicher und bedrohlicher die Gegner geschildert werden, desto größer die Verbreitung. Die Menschen wollen über ihre Gefühle angesprochen werden, mit Logik erreicht man immer nur eine Minderheit.

Anders als viele Menschen annehmen, muss eine erfolgreiche Verschwörungstheorie kein Körnchen Wahrheit enthalten. Beispielsweise hat es in Europa ungefähr ein Jahrtausend lang Pogrome gegen Juden gegeben, weil sie angeblich aus rituellen Gründen christliche Jungen und Mädchen ermordet haben sollen. Diese so genannte Ritualmord-Legende ist eine unwahre, gefährliche und trotzdem extrem langlebige Verschwörungstheorie. Sie lässt sich bis 1149 zurückverfolgen, das letzte Pogrom wegen dieser Beschuldigung fand im Jahr 1946 in Polen statt.

MIZ: Gibt es heute mehr Verschwörungstheorien als früher?

Thomas Grüter: Die Anzahl von einflussreichen und populären Verschwörungstheorien war immer sehr gering. Das ist heute auch nicht anders. Weil die Kosten für eine Veröffentlichung im Internet gegen Null gehen, lassen sich heute mehr abwegige Theorien finden als früher. Die meisten sprechen aber nur eine kleine Minderheit an, und bleiben deshalb nahezu unbekannt.

Auch sind viele Verschwörungstheorien der Vergangenheit heute längst vergessen. Diese Faktoren führen zu der Illusion, dass die Anzahl und der Einfluss von Verschwörungstheorien heute größer sind als früher.

MIZ: Gibt es Menschen, die anfälliger für Verschwörungstheorien sind als andere?

Thomas Grüter: Die Ausbreitung von Verschwörungstheorien ist mehr von der Situation als von der Psyche des Einzelnen abhängig. Das Misstrauen gegenüber der Welt ist in der Bevölkerung ungleich verteilt, aber in bestimmten Situationen erhöht sich sehr schnell die Bereitschaft, vermeintliche Gegner für die Lage verantwortlich zu machen. Verantwortungsbewusste Politiker und Journalisten sollten das wissen und entsprechend gegensteuern, wenn es nötig ist.

MIZ: Was sind das für Situationen?

Thomas Grüter: Wenn die Unsicherheit sehr groß ist oder die Gefühle der Menschen in Wallung geraten, ist die Neigung groß, nach einem Sündenbock zu suchen. Wenn sich keine einfachen Erklärungen anbieten, dann nimmt man auch komplizierte - sofern sie mit dem eigenen Weltbild übereinstimmen. Da kann es schnell geschehen, dass die "Feinde" für alles verantwortlich gemacht werden, auch wenn die Logik dabei auf der Strecke bleibt.

MIZ: Könnte man in Verschwörungstheorien vielleicht auch den Versuch sehen, sich eine komplexe Welt möglichst einfach zu erklären?

Thomas Grüter: Menschen neigen dazu, in Freundschaften und Feindschaften zu denken. Wir oder sie heißt die Devise. Verschwörungstheorien vereinfachen die Wirklichkeit, indem sie komplexe Ereignisse in dieses Schema einfügen. Unsere Feinde, nicht die Natur oder der Zufall, sind verantwortlich für alles Böse, das uns geschieht. Bekämpfen wir also unsere Feinde, auf dass alles besser werde! Dieses Muster findet sich bei vielen Verschwörungstheorien.

MIZ: Das erinnert sehr an die vereinfachte Sicht der Welt in Religionen...

Thomas Grüter: Die Mechanismen sind ähnlich. Die Religionen geben den Mächten der Natur quasi einen eigenen Willen und ein menschliches Gesicht. Man behandelt die Natur dann wie einen mächtigen Menschen, den man mit Gebeten oder Opfern günstig stimmen kann. Ähnlich ist es in den Verschwörungstheorien: Für ungünstige Ereignisse, Katastrophen oder ungeklärte Verbrechen sind heimlich mächtige Gegner verantwortlich. Nur möchte man künftigen Schaden nicht durch Gebete, sondern durch Pogrome oder Kriege verhindern.

MIZ: Wo wir gerade beim Religiösen sind: Könnte man sagen, dass Verschwörungstheorien für einige Leute zu einer Art Ersatzreligion werden?

Thomas Grüter: Das gilt vielleicht für die wenigen, die sich der Erfindung von Verschwörungstheorien verschrieben haben. Letztlich fehlen aber die bestimmenden Faktoren für eine Religion. Religion hat eine Überlieferung oder Offenbarung, einen oder mehrere Götter und einen Satz von Ritualen. Das sind alles Dinge, die es in Verschwörungstheorien nicht gibt. Verschwörungstheorien sind sehr irdisch.

MIZ: Gibt es Verschwörungstheorien, die mehr und andere die weniger "irdisch" sind, sprich: mehr oder weniger Bezug zur Realität haben?

Thomas Grüter: Verschwörungstheorien sind wirklichkeitsfrei. Sie entstehen und verbreiten sich ausschließlich als Ergebnis von Vorurteilen. Natürlich können sie punktuell mit der Realität übereinstimmen, denn auch dort existieren ständig Komplotte aller Art. Verschwörungstheorien benutzen konkrete Ereignisse gerne als Belege, aber ihre Kernthesen sind immer frei erfunden.

MIZ: Aber es gibt doch in Verschwörungstheorien immer wieder Beweise, die vorgelegt werden.

Thomas Grüter: Verschwörungstheorien benutzen Hinweise und Indizien wie Mosaiksteine, die sie wie in einem Kaleidoskop auf überraschende Weise immer neu zusammenstellen. Die Bausteine selbst sind aber so vieldeutig, dass sie nichts beweisen. Die eigentlichen Beweisstücke hingegen sind oft nicht wirklich greifbar. Viele politische Verschwörungstheorien berufen sich zum Beispiel an entscheidenden Stellen auf geheimnisvolle Informanten, die man schützen will. Oder sie führen Dokumente an, die inzwischen auf geheimnisvolle Weise verschwunden sind.

MIZ: Trotzdem ist doch die Frage interessant, wo die Realität aufhört und die Verschwörungstheorie anfängt. Siehe Edward Snowden.

Thomas Grüter: Es gibt keine Verschwörungstheorie, die das Ausmaß der Datensammlung durch die NSA auch nur annähernd vorhergesagt hätte. Viele Verschwörungstheorien behandeln dieses Thema, aber keine davon trifft auch nur annähernd die jetzt veröffentlichten Tatsachen.

Grundsätzlich ist allen klar, dass die Geheimdienste alle Daten sammeln, die sie bekommen können. Die Frage war nur, wie weit reichen ihre Fähigkeiten? Von dem Ausmaß waren wir dann alle sehr überrascht. Keine Verschwörungstheorie hat das passend beschrieben. Daran sieht man: Nur die Grundidee stimmt mit der Wirklichkeit überein, alles entstammt der Fantasiewelt der Verschwörungstheoretiker.

MIZ: Trotzdem dürfte der Fall Snowden den Verschwörungstheorien zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen...

Thomas Grüter: Seit Menschen in der Lage sind, sich abzusprechen, gibt es Komplotte und Intrigen jeder Größenordnung. Jedes Land bezahlt Geheimdienste dafür, dass sie geheime und teilweise illegale Operationen ausführen. Diese Vorgänge sind integraler Bestandteil unseres modernen Lebens. Verschwörungstheorien hingegen sollen dem Misstrauen gegen andere Gruppen eine scheinbar rationale Grundlage verleihen. Deshalb profitieren sie natürlich von jedem wirklichen Skandal. Deswegen sind sie aber immer noch nicht wahr.

MIZ: Wie schafft man es, selbst nicht ins Verschwörungsdenken zu verfallen?

Thomas Grüter: Am besten behandelt man Verschwörungstheorien wie einen Kriminalroman. Ein guter Thriller bezieht seine Spannung daraus, dass er eine glaubhafte Geschichte erzählt. Jeder weiß natürlich, dass sie nie stattgefunden hat.

Und natürlich sollte man mit seinen Verdächtigungen vorsichtig umgehen und sich fragen, ob sie nicht nur ein Ausfluss dessen sind, was man bestimmten Leuten zutrauen würde. Spekulationen sind erlaubt, solange man sie nicht für die einzig mögliche Realität hält. Sie finden ja zum Beispiel auch jeden Tag in den Zeitungen Kommentare, in denen gesagt wird: Wir glauben nicht, dass die Politiker die volle Wahrheit sagen, wir vermuten, dass da noch andere Motive im Spiel sind. Das ist selbstverständlicher Teil des politischen Journalismus, keine Verschwörungstheorie.

Man sollte niemals seinen Gegnern grundsätzlich sinistre Motive unterstellen oder sie verdächtigen, Urheber alles Bösen in der Welt zu sein. Verschwörungen gibt es überall, aber es wäre ein Fehler, die Welt pauschal in Freunde und Feinde einzuteilen. Gute und Böse gibt es überall.

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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 4/13, S. 11-15, 42. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Postfach 1745, 58017 Hagen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2014