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STANDPUNKT/052: Gehört der Islam zu Deutschland? (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 2/14

Gehört der Islam zu Deutschland?
Kalifenkultur, Klosterkultur und die Frage nach Europas Wurzeln

Von Rolf Bergmeier



Eine Mehrheit führender Politiker und deutscher Historiker meint, Europas Kultur sei vor allem eine christliche. Sie sei durch das emsige Schaffen von Mönchen geprägt worden und hätte es die Klöster nicht gegeben, dann wäre es um Europa schlecht bestellt. Nun kann nicht geleugnet werden, dass Europas Kultur vom Christentum geprägt worden ist. Aber das bedeutet nicht, dass diese Religion das Fundament europäischer Kultur bildet. Denn Europa wächst aus vielen Quellen auf. Die ergiebigste ist dabei die griechisch-römische, genannt "antike". Sie bildet den Grundstock unserer Kultur.


Diese Feststellung ist so gewiss, dass weitere Worte über ihre Bedeutung überflüssig sind und man unschlüssig ist, ob man eher die Oberflächlichkeit unserer Politiker beklagen soll, die von einer "christlichen" Kultur sprechen oder den Mangel an Mut der Althistoriker, die sich als Sachwalter der antiken Kultur eigentlich gegen deren Vereinnahmung durch die Kirchen wehren müssten.

Verschwiegen und vergessen: Die Kalifenkultur

Da gibt es neben der antiken Kultur noch eine zweite Lebensform, die Europa wesentlich gestaltet: die islam-arabische. Sie steigt Mitte des 7. Jahrhunderts aus dem Wüstenstaub Arabiens auf, integriert die griechisch-römische Kultur, adaptiert indische, asiatische und persische Beiträge, ordnet und ergänzt das Erworbene und beherrscht die Welt zwischen Indus und Atlantik. Sie dominiert Spanien, Portugal und Sizilien, herrscht zeitweise in Teilen Süditaliens und Südfrankreichs und ist anderen Kulturen des Mittelalters so weit überlegen, dass der irakisch-britische Schriftsteller und Physiker Jim Al-Khalili meint, sie sei das Fundament der abendländischen Kultur. Was gewiss ein wenig übertrieben ist, denn auch die islamisch-arabische Kultur gründet auf der antiken Kultur. Jedenfalls stehen sich zwischen 700 und 1400 in Mitteleuropa zwei Kulturen höchst unterschiedlicher Ausprägung gegenüber: die christliche und die islamisch-arabische. Beide gründen auf griechisch-römischem Erbe, beide Kulturräume sind von den Völkern der Völkerwanderung durchzogen worden und dennoch - was kulturelle, wissenschaftliche und zivilisatorische Leistungen angeht - Lichtjahre auseinander.

Verehrt und in aller Munde: Die Klosterkultur

Die Kultur der Christen, plakativ als "Klosterkultur" bezeichnet, ist in aller Munde und spielt in der Populär- und Forschungsliteratur die erste Geige, wenn von den Wurzeln europäischer Kultur gesprochen wird. Dabei ist sie im Mittelalter lediglich eine Regionalkultur des lateinsprachigen Teils Europas, als reine Kirchenkultur thematisch und künstlerisch schmal aufgestellt und spielt im mittelalterlichen Konzert der Hochkulturen nur eine untergeordnete Rolle. Das klingt provokativ und um das zu erkennen, muss man über den Tellerrand fränkischer Geschichtsschreibung hinausschauen.

Die Ursachen dieses außerhalb der islamwissenschaftlichen Institute geleugneten Kulturgefälles zu Lasten der "Klosterkultur" sind in den Doktrinen des omnipotenten päpstlichen Kirchenhünen zu suchen: Die Zentralisierung allen Denkens auf kirchliche Vorgaben, die Verunglimpfung der Menschen als "massa damnata" (Augustinus), die Geringschätzung der realen Welt als "Sündental", die Rückbindung allen Handelns an eine jenseitige Richterautorität, das gegen Fremd- und Eigenkritik immunisierende dogmatische Glaubenskorsett und die Vertreibung der frei denkenden Intelligenzija führen zu einem Versiegen kreativer Kräfte und damit zu einem kulturellen und ökonomischen Stillstand und zu einer wissenschaftlichen Rückwärtsrolle.

Als Folge ist das Ansehen der christlichen Kultur außerhalb des lateinsprachigen Mitteleuropas gering. Das Frankenland sei gut für den Sklavenhandel, meint im 10. Jahrhundert ein muslimischer Zeitgenosse, ansonsten gebe es nicht viel davon zu berichten. Und selbst das orthodoxe Byzanz vergleicht "die Lateiner" mit Barbaren. Der Historiker Johannes Fried glaubt dennoch erkennen zu können, das christlich-europäische Mittelalter sei "weise, schöpferisch, neugierig, erfindungsreich, kunstsinnig, demütig, bescheiden" gewesen und habe "selbst dem Teufel die Stirn geboten".

Nun, "erfindungsreich" war das christliche Mitteleuropa ganz gewiss. Ein Blick in die an Fälschungen, Legenden und Überhöhungen nicht arme Kirchengeschichte und in die phantasievoll bestückten Folterkammern der Inquisition reicht zu dieser Erkenntnis. Aber dass das christliche Mitteleuropa "demütig" und "bescheiden" gewesen sein soll, darf man angesichts der von der Kirche angestrebten Weltherrschaft und dem gewaltigen Reichtum der Kirche wohl als den Ausrutscher eines Historikers bewerten. Solche Bauchlandungen auf historisch-wissenschaftlichem Glatteis gibt es viele, insbesondere, wenn es um eine Bewertung des Phänomens "christliche Kirche" in der Spätantike und im Mittelalter geht, so dass bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dem damaligen Rektor der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin, Eduard Meyer, die "ängstliche Scheu der Historiker" auffiel, "das Christentum geschichtlich zu begreifen".

Kalifenkultur versus Klosterkultur

Der Islam ist eine Buch-Religion. Mangels Priester bedarf sie lesekundiger Gläubiger. Jeder soll durch das Studium der heiligen Schriften seinen Weg zu Gott selbst finden. Bildung ist daher ein "Muss" und beginnt mit dem Schulbesuch. Entsprechend richteten die islamisch-arabischen Groß- und Kleinreiche ihre Schullandschaften aus. Die erste Elementarschule wird 653 in Medina eröffnet. Um 900 hat nahezu jede Moschee eine Schule zur Erziehung von Jungen und Mädchen. Der Schulbesuch beginnt normalerweise mit sechs Jahren. Nachdem Lesen und Schreiben erlernt worden ist, wird der Koran studiert und die Schüler werden in die Mathematik eingeführt. Diejenigen, die nach dem Erlernen des Lesens und Schreibens das Studium fortführen möchten, werden in größeren Moscheeschulen in arabischer Grammatik, Poesie, Logik, Algebra, Biologie, Geschichte, Recht und Theologie unterwiesen. Der US-amerikanische Historiker Elmer H. Wilds schlussfolgert: "Bildung war so allgemein verbreitet, dass es hieß, es sei schwierig, einen Muslim zu finden, der nicht lesen oder zu schreiben konnte."

Während Bildung, Erziehung und die Institutionen, die sie vermitteln, im Islam ein hohes Ansehen genießen, fehlt im christlichen Abendland der islamische Zwang, seinen Weg zu Gott durch eigenes Studium zu finden. Denn die Priester verstehen sich als Mittler des Wortes Gottes und die Kirche kommt folglich ohne lesekundige Gläubige aus. Es reicht, wenn die Gläubigen hören und beten können und allenfalls das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser sowie einige Psalmen auswendig beherrschen. Stattdessen setzt die Kirche ein eigenes kircheninternes Schulsystem in Kraft, das dem klerikalen Nachwuchs dient.

So versiegt in Mitteleuropa für mehr als tausend Jahre das öffentliche Schulsystem mit weitreichenden Konsequenzen. Bereits nach einer Generation ist das vom Schulbesuch ausgeschlossene Volk geistig verödet und findet sich als stilles Auditorium fern des Altars, häufig durch Gitter getrennt, im Kirchenraum wieder. Dort beobachtet es mit gläubigem Staunen die Handlungen der Priester, ohne sie zu verstehen, denn die Liturgie wird in Latein zelebriert.

Arabische und christliche Bibliotheken im Vergleich

Mit den Schulen wachsen im arabischen Islam die Bibliotheken. Es gibt im 10. Jahrhundert keine muslimische Stadt von Bedeutung, die nicht mindestens eine öffentliche Bibliothek besitzt. Die zu jeder Bibliothek gehörende Kopierabteilung kann ohne weltanschauliche Vorgaben arbeiten, so dass sich in den arabischen Bibliotheken das antike und damals gegenwärtige Wissen der Welt sammelt. Die Bibliothek von Córdoba wächst auf 400.000 Bücher an und in Bagdad, Alexandria und Toledo erreichen die Bibliotheken die Dimension großer spätantiker Bibliotheken mit mehreren hunderttausend Büchern. Die Bibliotheken stehen jedem Leser offen. Kataloge erleichtern die Ausleihe und die Klassifizierung der verschiedenen Themen. Viele Bände werden in geprägtem Leder und duftendem Holz gebunden, einige mit Intarsien aus Gold und Silber versehen.

Einen solchen Schatz hätte auch das christliche Mitteleuropa aufbauen können. Aber die meisten Texte stoßen dort auf nur begrenztes Interesse, weil sich die Kirche dem Studium "heidnischer" Schriften außerhalb des reinen Übungsbetriebes entgegenstellt. Lediglich Texte, die der Interpretation der "Heiligen Schriften" dienlich sind, finden Gnade vor den Augen der Zensoren. Entsprechend dürftig sehen die frühmittelalterlichen Klosterbibliotheken aus. Die meisten sind einseitig auf die Bedürfnisse des Gottesdienstes ausgerichtet und enthalten an vorderster Stelle biblische Werke und Exegesen. Es folgen Heiligenlegenden und Werke lateinischer Kirchenväter.

Die thematische Einseitigkeit wird durch die im Vergleich mit den antiken und arabischen Bibliotheken geradezu armselige Anzahl von Büchern pro Kloster ergänzt. Die Reichenauer Klosterbibliothek verfügt nach einem Bestandsverzeichnis des Jahres 822 über rund 450 Bände, davon sind nur wenige Exemplare wissenschaftlichen oder technischen Inhalts. Die wegen ihrer Bibliothek berühmte Abtei Bobbio in Italien verfügt im 10. Jahrhundert über rund 700 Bände und das berühmte Kloster Cluny kommt auf gerade einmal 570 Volumina.

Man muss sich die Dimensionen vor Augen führen, um ein Gespür für das Bildungsgefälle zu bekommen: Wenige hundert Handschriften pro Klosterbibliothek gegenüber Hunderttausenden in den öffentlichen Bibliotheken in Bagdad, Córdoba oder im antiken Rom. Eins zu Tausend! Ein Kulturdebakel ersten Ranges im lateinsprachigen Mitteleuropa. Und dennoch sprechen deutsche Historiker vom "Wissensschatz in mittelalterlichen Klöstern".

Wissenschaft gegen Kräuterkunde

Krankenhäuser mit verschiedenen, nach Fachrichtungen geordneten Stationen gibt es in jeder größeren muslimischen Stadt. Für Bagdad ist ein Krankenhaus aus dem Jahre 982 mit vierundzwanzig fest angestellten Ärzten überliefert. Bei Operationen wird mit Opium oder einem Schwamm, der mit einer Mixtur aus Haschisch und Bilsenkraut getränkt ist, eine Art Narkose herbeigeführt, die später, bis in die europäische Neuzeit hinein, in Vergessenheit geraten wird. Parallel zu den öffentlichen Krankenhäusern entstehen Apotheken, die unter staatlicher Aufsicht stehen und die Bevölkerung mit Arzneimitteln versorgen. Die Diagnose und Therapie von Hautkrankheiten, wie Pocken, Krätze und Geschwüren ist hoch entwickelt, ebenso die Arz­neimittelkunde. Abu Mansur schreibt dazu im 10. Jahrhundert die älteste Arzneimittellehre Das Buch der Grundlagen über die wahre Beschaffenheit der Heilmittel. Später wird das Buch ins Lateinische übersetzt und versorgt das spätmittelalterliche Europa mit den Ideen und Praktiken, aus denen schließlich die moderne Medizin entsteht.

Unterdessen ist es im christlichen Mitteleuropa mit der Medizin und der Hygiene nicht weit her. Städtische Hospitäler und Apotheken sind unbekannt, Medizin wird praktisch nur im Einzugsbereich der Klöster und als eine Mischung aus Gottesdienst, einfachen Handreichungen, Kräutergarten-Ingredienzen und visionären, schamanistisch-spiritualistischen Einflüssen praktiziert. Krankheit wird als von Gott gesandt betrachtet und die Heilkunde als eine verwerfliche Tätigkeit bewertet, da sie in Gottes Heilsplan eingreife. Die Diagnose der damaligen Medizin-Theologen lautet, Gott bestrafe den Sünder, am besten werde man durch Buße und Anrufung der heiligen Geistergalerie geheilt. Medizinische Forschung sei überflüssig, einen menschlichen Körper zu anatomischen Zwecken zu öffnen, ungehörig.

Dieser Mangel an medizinischer Forschung und der Widerwille gegen Körperlichkeit führen geradewegs zu einer Inflation an Wallfahrten als Heilmittel für Krankheiten und zu einer ausufernden Zahl von Schutzheiligen, die man für die Heilung bestimmter Leiden verantwortlich macht. In diesem Umfeld bewegt sich auch die Benediktiner-Äbtissin Hildegard von Bingen (um 1150). Sie gilt als "Urmutter" der Alternativmedizin, in deren Mittelpunkt Kräuter, Steine, Beten und Fasten stehen. Hildegard empfiehlt eine religiös-ökologische Alternativmedizin, die hinsichtlich Diagnose und Therapie Jahrhunderte hinter den arabischen und mehr als tausend Jahre hinter den griechischen Erkenntnissen zurückbleibt. Onyx, schreibt sie, wirke, in Wein eingelegt und mit Mehl und Hühnereiern angerührt, gegen Magenleiden. Ein Diamant verscheuche den Teufel. Bei Infektionskrankheiten wie Grippe oder Malaria rät sie, einen Smaragd in den Mund zu nehmen. Dazu empfiehlt Hildegard regelmäßiges Beten und Buße. Das Handbuch der Geschichte der Medizin lässt kein gutes Haar an dieser Medizin: Ein "abenteuerliches Gemisch aus Theologie, Mystik und Dreckapotheke" sei die Medizin gewesen und "unter dem unseligen Einfluss einer fanatischen Kirche in ihrer Entwicklung gehemmt und geknechtet worden". Hildegard von Bingen aber wird im Rheinland verehrt. Das Erbe der Hildegard gelte es "zu bewahren und für die kommenden Generationen erlebbar und zugänglich zu machen", meint Julia Klöckner, eine ehemalige Grundschullehrerin für Religion, die sich aufmacht, Ministerpräsidentin von Rheinland Pfalz zu werden.

Mitteleuropa und das "finstere Mittelalter"

Die Folgen des Bildungsausschlusses weiter Teile der mitteleuropäischen Bevölkerung und der Reduktion klassischer Bildung auf eine religiöse Schmalspurbildung sind vorhersehbar und zwangsläufig: Die natur- und geisteswissenschaftliche Forschung trocknet aus, Ingenieurwissen wird kaum mehr gefragt, Bildung im klassischen Sinne gibt es nicht mehr. Die Städte veröden und mit dem Untergang der Stadtkultur geht eine Verarmung der Bevölkerung einher.

Das "finstere Mittelalter" hält Einzug, weil ein omnipotente und jenseitsorientierte Kirche fast eintausend Jahre lang kein Interesse an Bildung im klassischen Sinne zeigt...

Das "finstere Mittelalter" hält Einzug. Nicht, weil die Menschen die Freude am Glücklichsein verloren hätten, nicht weil die Herrscher den angeblichen Forderungen der Kirche nach sozialer oder kultureller Besserung nicht nachgekommen wären, sondern weil eine omnipotente und jenseitsorientierte Kirche fast eintausend Jahre lang kein Interesse an Bildung im klassischen Sinne zeigt und keinerlei Abhilfe schafft, obwohl sie alle hohen Verwaltungspositionen besetzt und Kaiser in die Knie zwingt. Dass diese Bildungskatastrophe nicht "Wesen der Zeit" war, sondern Folge einer Ideologie, zeigt der Blick über die Grenzen: Wenige Kilometer weiter, in Sizilien und südlich der Pyrenäen, zeigen die Araber, dass es auch anders geht: Bildung und Wohlstand in weitgehender Harmonie aller Anschauungen. Aus diesem "Weltkultur"-Schatz wird ab dem 13. Jahrhundert die Flamme des Wissens nach Mitteleuropa gereicht und dort die "Renaissance", die Wiedergeburt des antiken Denkens, einleiten. Über diesen Beitrag des Islam wird in den deutschen Geschichtswissenschaften selten gesprochen. Ihr Schweigen ist eine Dokumentation des Versagens.

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Thesen zur "christlich-abendländischen Kultur"

• Europas Kultur gründet im klassischen Athen, als das Wort des Bürgers und die Sprache der Vernunft an die Stelle der Sprüche von Orakeln und Wahrsagern treten, als die demokratische Mitsprache aller anerkannten Bürger beschlossen, Theater gegründet und unvergleichlich schöne "klassische" Kunstwerke geschaffen werden.

• Rom ergänzt die griechische Kultur, schafft Ordnung, liefert den Völkern Recht und Gesetze, Thermen und Theater, Fernstraßen und Städte. Zusammen mit der griechischen Kultur ist die römische bis heute stilbildend. Wir nennen sie "antike" Kultur. Ihre überragende Bedeutung für die westliche Weit ist unbestritten. Sie ist das Fundament, auf dem Europa ruht.

• Die antike Kultur endet mit der Ernennung des Katholizismus zur Staatskirche im Jahre 380. Das Jahr markiert einen Paradigmenwechsel von der polytheistisch-multikulturellen Denkweise zu einer monotheistisch-monothematischen. An die Stelle der antiken Kultur tritt eine knochige Dogmenkultur; die ihre Durchsetzungskraft aus der Allianz mit der Staatsmacht gewinnt.

• Das nunmehr dominierende Jenseitsdenken und die autoritäre Wahrheitsgewissheit der Kirche paralysieren Kreativität und Forschung, Bildung und Wissenschaft. Ohne öffentliche Schulen, Bibliotheken, Theater und Kanalisation verwahrlosten die Städte. Die Stadtkultur bricht zusammen, die Städte versinken im Schmutz. Der einst freie Geist zieht sich als strangulierter Kirchengeist hinter Klostermauern zurück.

• Parallel zum Verfall des Nordens schwingen sich im islamischen Süden Europas die Städte zu kulturellen Höhen auf. Die islamisch-arabische Kultur wächst in kurzer Zeit wie Phönix aus der Asche. Sie integriert die griechisch-römische Kultur, adaptiert indische, asiatische und persische Beiträge, ordnet und ergänzt das Erworbene und beherrscht zwischen 700 und 1400 die Welt zwischen Indus und Atlantik.

• Die neue islamisch-arabische Kultur wird zum Maßstab aller Kulturen. Córdoba, die Kalifenstadt im arabischen Spanien, gilt als "Zierde des Erdkreises", Bagdad als weltweiter "Hort der Weisheit".

• Ab dem 13. Jahrhundert dringt das islamisch-arabische Wissen nach Mitteleuropa. Nach tausend Jahren Düsternis kehren Teile der antiken Kultur an ihren Ursprungsort zurück. Europa wird zum Erben und Nutznießer der heidnischen Antike im arabischen Gewand und erblüht in der "Renaissance". Das "finstere" Mittelalter wandelt sich. Die lange unterdrückten schöpferischen Kräfte finden einen, wenngleich begrenzten, Raum zur Entfaltung.

• Im 18. Jahrhundert leitet die Aufklärung, Höhepunkt europäischer Geistesgeschichte, die Revolutionen für Freiheit, Mitbestimmung und Menschenrechte ein. Ihre unsterbliche Formel lautet: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen". ihre Forderung nach Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung brachte die Werte hervor, die heute die westliche Hemisphäre prägen.

• So sind Antike, islamisch-arabische Hochkultur und Aufklärung die eigentlichen Bausteine europäischer Kultur. Der Beitrag des Christentums in Gestalt der katholischen Kirche ist zwar seit der Gotik unübersehbar, aber als reine kirchenkulturelle Leistung für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Europas von geringerer Bedeutung.


Rolf Bergmeier, geboren 1940, Studium der Alten Geschichte und Philosophie an der Gutenberg-Universität Mainz. Anfang des Jahres erschien sein Buch Christlich-abendländische Kultur - eine Legende.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Spuren islamischer Kultur in Europa: Die Mezquita in Cordoba die ehemalige Hauptmoschee im maurischen Spanien wurde nach der christlichen Rückeroberung Cordobas zur römisch-katholischen Kathedrale umfunktioniert.

- Die Ingenieurskunst der Antike ging im Mittelalter verloren. Aquädukte wie den Pont du Gard gab es im christlichen Abendland nicht mehr.

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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 2/14, S. 13-19, 42. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Postfach 1745, 58017 Hagen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2014