Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → FAKTEN

STANDPUNKT/027: Auge um Auge (hdp.de)


Humanistischer Pressedienst - 18.03.2010

Auge um Auge

Von Assunta Tammelleo, Bund für Geistesfreiheit (bfg) München, März 2010


MÜNCHEN - Das aktuell wohl medienwirksamste Thema der letzten Wochen ist der Kindesmissbrauch. Wie kaum ein zweites geeignet, das Volk in Aufregung, seine Seele zum Kochen und seine Stammtischbelegschaften zur Verbrüderung zu bringen. Schließlich gibt es doch kaum Verwerflicheres, Abscheulicheres, Gemeineres als der Missbrauch an Minderjährigen, Schutzbefohlenen, Hilflosen.

Gerade in Zeiten der zunehmend um sich greifenden Zweifel an so manchen eventuell doch nicht ewig währenden Wahrheiten wie dauerhafter Wohlstand, unerschütterliche Stabilität der Finanzmärkte und grenzenloses Wirtschaftswachstum eint der Ruf nach mehr Aufklärung, mehr Strafe und mehr Anstand alle sozialen Schichten und politischen Lager landauf, landab.

Auf den ersten Blick beinahe nachvollziehbar scheint daher so manchem die Botschaft auf privaten Fahrzeugen, die inzwischen nicht nur im Osten der Republik gesehen werden können und wohl auch sollen. "Todesstrafe für Kinderschänder" steht gut lesbar in der Regel auf der Heckscheibe. Der wohl häufig in Verbindung mit dieser Botschaft skizzierte Kopf eines pitbullähnlichen Säugetieres soll die Ernsthaftigkeit des Anliegens glaubhaft unterstreichen. Was auch gelingt; es geht etwas durchaus Bedrohliches von dieser zweifelhaften Heckscheiben-Dekoration für den Betrachter aus. Beim einen oder anderen Mitbürger weckt dieses Statement zurzeit womöglich sogar erste zaghafte Zustimmung, was fast kein Wunder ist ob der täglich neu dazukommenden Flut von immer noch mehr Fällen von Kindesmissbrauch.

In unserer demokratischen Republik allerdings ist die Todesstrafe seit dem zweiten Weltkrieg abgeschafft; im Übrigen ist sie das in etwa drei Dritteln aller Staaten dieser Erde. Auch wenn 58 Länder die Todesstrafe noch anwenden können, finden 95 Prozent aller Exekutionen in nur 5 Ländern statt. Gerade die Kriminalstatistik der USA beweist anschaulich, dass die Todesstrafe keinen nachweislich positiven Einfluss auf das Ausmaß der begangenen Straftaten hat. Sie gilt fast überall auf der Welt als unvereinbar mit den Menschenrechten, weshalb die Generalversammlung der Vereinten Nationen seit 2007 ihre bedingungslose Abschaffung fordert.


Zahn um Zahn?

Was für Menschen stecken also hinter dieser durch Aufkleber auf dem Auto öffentlich gemachten inhumanen Grundhaltung? Spontan reagierende betroffene und verzweifelte Einzelkämpfer? Meint man vielleicht auf den ersten Blick.... Die Botschaft der Wiedereinführung der Todesstrafe für des Missbrauchs an Kindern für schuldig befundener Menschen erscheint doch gar nicht so Wenigen ganz wichtig. Die Forderung nach Todesstrafe ist in unserem demokratischen Staat offensichtlich sogar so weit verbreitet, dass es davon gedruckte Aufkleber für alle Arten von Fahrzeugen gibt. Ein berechtigter Grund zur Annahme also, dass hinter dieser Meinungskundgabe wohl eher eine politische Kampagne steckt. Moderne Zeiten machen es möglich, dies innerhalb kürzester Zeit herauszufinden; "Todesstrafe für Kinderschänder" (1) ist seit geraumer Zeit eine Aktion aus den Reihen der Neonazis, die ja durchaus aktive Propagandisten sind. Auch sie wissen, dass beim Thema Missbrauch an Kindern der leider nicht nur durch die Boulevardmedien geschürte Volkszorn leicht hochkommt, was der Verbreitung ihrer politischen Ziele sehr dienlich sein kann. Zunächst die Todesstrafe für Kinderschänder.... und dann?

So fahren nun also über 60 Jahre nach Ende der Nazi-Terror-Herrschaft in Deutschland bekennende Neo-Nazis (2) mit zutiefst inhumanen Botschaften durch die Straßen unserer Republik, vermutlich in der Regel gänzlich unbehelligt und nicht selten gar auf Anflüge von Verständnis stoßend. Heute die Todesstrafe für Kinderschänder, aber vielleicht morgen schon für Homosexuelle, übermorgen für Russen, Türken, Araber, und dann für alle Arten von Andersdenkenden ....?

Und hier schließt sich der Kreis wieder. In Deutschland werden zurzeit knapp über 12.000 Fälle von Kindesmissbrauch pro Jahr angezeigt, die Polizei geht von einer Dunkelziffer von über 300.000 Fällen aus. Kindesmissbrauch findet statistisch betrachtet überwiegend zwischen Schutzbefohlenen und ihnen vertrauten Personen statt; aktuell davon besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche in den wohl weitestgehend geschlossenen Räumen christlicher Einrichtungen. Den Betroffenen vertraute oder von ihnen vielleicht sogar ins Vertrauen gezogene Personen scheinen häufig keinen Grund zur Erstattung von Anzeigen zu sehen bzw. helfen dem Täter oftmals, seine Taten fortzusetzen und über lange Zeiträume nicht öffentlich werden zu lassen, allen voran allem Anschein nach die Institution Kirche selbst.


Humanisten aller Länder....

Ist der Ruf nach Vergeltung, nach Todesstrafe als Maßnahme womöglich lauter als alle anderen Rufe? Es ist doch kaum möglich, dass bei einer derart großen Anzahl von Missbrauch gegen die Schwächsten in unserer Gesellschaft nirgendwo wer was gesehen oder gehört hat? Dass es Missbrauch von Kindern gab, gibt und geben wird, ist wohl eine bedauerliche Tatsache. Es ist die Aufgabe von uns allen im Hier und Jetzt, aufzuklären, die Ursachen zu ergründen und geeignete Maßnahmen zur Abhilfe zu schaffen. Dabei oberstes Gebot ist die gerade zurzeit wieder viel beschworene demokratische Tugend, die Zivilcourage. Nicht Strafen, sondern der Mut der Bürger kann auch beim Missbrauch an Kindern und Jugendlichen helfen, viel Unheil und Elend zu verhindern.

Und Zivilcourage ist auch gefordert in Bezug auf die Besitzer der Fahrzeuge mit der Aufschrift "Todesstrafe für Kinderschänder"! Da heißt es für uns Humanisten genauso, Zivilcourage aufzubringen, zu kommentieren, sich entgegen zu stellen und solchen inhumanen, undemokratischen Forderungen frühzeitig den gebotenen öffentlichen Widerstand entgegen zu setzen. Auge um Auge..., so meinte Mahatma Gandhi vor vielen Jahren, wird die Welt erblinden. Zum Glück scheint sie dies - bis jetzt zumindest - doch wohl nur teilweise zu sein.


Anmerkungen:
(1) http://www.n-tv.de/panorama/Brauner-Spuk-in-Leipzig-article18521.html
(2) http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/warum-engagieren-sich-neonazis-gegen-kinderschaender

Bund für Geistesfreiheit (bfg) München
www.bfg-muenchen.de


*


Quelle:
Humanistischer Pressedienst
URL: http://hpd.de/node/9075
Leipziger Straße 60, 6-1, 10117 Berlin
Leitung: Dr. Carsten Frerk
Telefon: 030 - 204 533 30
E-Mail: frerk@hpd.de
Internet: www.hpd.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2010