Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → FREIDENKER

FRAGEN/001: Humanismus historisch und gegenwärtig? - Interview mit Hans-Günter Eschke (Freidenker)


Freidenker Nr. 3-07 September 2007
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Humanismus historisch und gegenwärtig?

Ein Interview mit Hans-Günter Eschke


REDAKTION FREIDENKER: Kritischen Menschen, als die wir Freidenker uns betrachten, liegen Begriffe der "Leitkultur" oder gar einer Kultur der "westlichen Werte" schwer im Magen. Unglücklicherweise muten diese Begriffe unumstößlich an, während sie doch in Wahrheit eine Hegemonie reflektieren, die ihre einseitigen Begrifflichkeiten zu etablieren trachtet. Gibt es alternative Formulierungen, und worauf kann man diese gründen?

HANS-GÜNTER ESCHKE: Der inflationäre Gebrauch der Wortverbindungen mit "Kultur" verweist letztlich nur darauf, dass Kultur unendlich reich an Aspekten ist, reich wie das Leben der Menschheit selbst, und dass das drängende Bedürfnis nach Kultur sich in allen diesen Beziehungen, Facetten, geltend macht. Er gibt aber - und das kündet gerade von einer grundsätzlichen Mangelsituation - keine Antwort auf die Frage nach dem Wesen dessen, was wir als Kultur bezeichnen, also nach dem "einigenden Band" all der Formen und Erscheinungen von Kultur, nach dem Notwendigen und Allgemeinen, das gesellschaftlichen Ereignissen und Erscheinungen das Attribut des Kulturellen verleiht. Und eben diese geistige Situation steht in auffallendem Kontrast zu dem, was der Menschheit angesichts ihrer infolge der "Globalisierung" angestoßenen umfassenden Lebenssituation nötig ist. Albert Schweitzer hatte bereits 1923 diese bereits damals offenkundig werdende widersprüchliche Situation als ein "gefährliches Gemenge von Kultur und Unkultur" bezeichnet.(1)

In einer solchen Gesamtsituation, die den objektiven und subjektiven Erfordernissen der Zeit nicht gerecht wird, also nicht auf der Höhe der Zeit ist, stellt sich zwangsläufig die Frage nach Ideen, die geeignet sind, aus dem Dilemma heraus zu führen. Der Mensch hat seiner Gattung nach den Vorzug, in jeder geschichtlichen Situation auch an Ideen früherer Denker anknüpfen und sie quasi "verjüngen", sie weiter entwickeln zu können. Freilich fragt sich dabei, an welche Ideen man angesichts des heutigen Dilemmas anknüpfen kann, um eine dem Geiste des Humanismus gemäße Anregung zu erhalten. Von dem herrschenden "Zeitgeist", in dem die gesellschaftlichen Prozesse, die als "Globalisierung" firmieren, sehr eingeschränkt als technisch bzw. (finanz-)ökonomisch bestimmte Vorgänge interpretiert werden, ist eine der wirklichen menschheitlichen Sachlage gemäße Antwort auf diese Grundfrage nicht zu erwarten. Partikularisierung menschheitlicher Probleme war ja der feudalistischen Denkkultur prinzipiell eigen. Und diese Denkprinzipien sollten mit der Überwindung der Feudalgesellschaft eigentlich überwunden sein.

Offenbar hat aber die durch das Kapitalverhältnis bestimmte bürgerliche Gesellschaft jenes partikularisierende Prinzip der Feudalgesellschaft nicht radikal überwunden, sondern mit neuem Vorzeichen wieder erstehen lassen. Damit gerät die offizielle Gesellschaft dank ihrer Favorisierung des Neoliberalismus immer deutlicher in Konflikt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit unserer Zeit. Denn immer offensichtlicher besteht das Grundproblem der Kultur heute in dem vielgestaltigen Konflikt zwischen den Lebensnotwendigkeiten und -möglichkeiten des Menschseins im Maßstab der ganzen Menschheit und dem realen Dasein der Menschen unter den herrschenden Bedingungen der "Globalisierung" in der gesellschaftlichen Form kapitalistisch bestimmter Gesellschaftssysteme. Das heißt weltanschaulich, den ganzheitlichen Lebensbedürfnissen der Menschheit, die sich sowohl in den allgemeinen und relativ stabilen zwischenmenschlichen Beziehungen der Gesellschaftssysteme, der Völker, Nationen als auch in der ganzheitlichen sozialen Qualität der Person eines jeden geltend machen, steht die bornierte, eingeschränkte gesellschaftliche Form der "Globalisierung" unter Führung kapitalistischer Finanzmärkte gegenüber. In deren Zentrum steht aber nicht der Mensch, sondern der Markt, also ein historisch bestimmtes gesellschaftliches Mittel des Lebens und damit in einseitiger Weise eine wesentlich marktwirtschaftliche soziale Qualitätsbestimmtheit des Menschen.

Durch diesen wirklichen, weltweiten Konflikt im Leben bestimmt, rückt in weltanschaulicher Hinsicht die Frage nach einem allgemeinen menschheitlichen Prinzip der Kultur auf einen oberen Rang der geistigen und praktischen Tagesordnung der Menschheit.

FREIDENKER: Hat man nicht schon früher in der Geschichte der Menschheit nach einem solch allgemeinen Prinzip gesucht?

HANS-GÜNTER ESCHKE: Mit dem Blick auf die Geschichte muss man hinzufügen: Diese Frage rückt erneut an diese Stelle. Erneut deshalb, weil sie in Aufklärung und klassischem Humanismus diesen Platz geschichtlich bereits einmal innehatten - in der Zeit der geistigen Vorbereitung und Begleitung der antifeudalen bürgerlichen Revolutionen in Nord-Amerika und Europa. Damals wurden von den Denkern des aufstrebenden Bürgertums allgemeine, die Menschheit als ganze betreffende Grundfragen des gesellschaftlichen Lebens als Fragen der Kultur aufgeworfen und im Begriff der Kultur fixiert. Ihr bedeutendstes Ergebnis in weltanschaulicher Hinsicht war die Herausarbeitung einer Gesamtsicht, in deren Zentrum nicht mehr eine angenommene Gottheit als Urgrund und Zweck menschlichen Lebens und Strebens stand, sondern der Mensch in seinem Wechselverhältnis zur Welt als "sein eigener letzter Zweck" und Urheber seines Daseins.(2)

Die so gestellte Frage nach dem Menschen als seinem eigenen letzten Zweck entwickelte sich zur Frage nach dem obersten Wert und Leitprinzip menschlichen Denkens und Strebens und damit nach der Kultur. Im klassischen Humanismus wurde sie von der Position des aufstrebenden Bürgertums aus gegen die herrschenden Feudalmächte universell als Sinnfrage des Menschseins gestellt im Zusammenhang mit der Idee eines Weltbürgertums, als das Menschsein überhaupt, ganz allgemein betreffendes Problem, das die unterschiedlichen Daseinsweisen der Menschheit vom Grund, von der Wurzel des Menschseins in der Welt her verbindet, also die Menschheit als Ganze betreffende Verbindlichkeit mit sich führt.

Im Gegensatz dazu scheint es heute so, als würden die aktuellen Fragen nach der Kultur allein von den ökonomisch, politisch und medial Herrschenden, die gegenwärtig die gesellschaftlichen Formen der Globalisierung bestimmen, bejahen und zu verantworten haben, vermeintlich "alternativlos", in gänzlich anderer Weise gestellt. Davon ausgehend tun sie in der Regel die Frage nach historischen Quellen unter Verweis auf reale bzw. angebliche zeitbedingte Mängel der aufklärerischen Geistesrichtungen mit dem Pauschalargument ab: nicht zeitgemäß.

Stattdessen werden historisch bestimmte, national bzw. regional besondere Formen, in denen Kultur in der Menschheit ausgeprägt ist, hervorgekehrt. Aus ihrer Entgegensetzung werden jene besonderen Formen herausgefischt, die als vermeintlich allgemein bestimmendes Paradigma für die ganze Menschheit geltend gemacht werden sollen - z.B. die "westliche Werteordnung". Es ist dies - wie soeben gezeigt - im Kern eine Rückkehr hinter Auffassungen der Aufklärung und des klassischen Humanismus zurück zu einer Auffassungsweise, bei der jede Seite in ihrer "Eigentümlichkeit" befangen ist, ihre Partikularität als allgemein "allein selig machend" für die Menschheit ausgibt, und sie anderen Kulturformen sektenartig fundamentalistisch als Paradigma entgegenstellt. Auf solchen Wegen gibt es, historisch nachweisbar, kein organisches Zusammenwachsen der Kulturen zu einer gemeinsamen Kultur der Menschheit.

FREIDENKER: Wie aber lässt sich ein einigender Kulturbegriff formulieren?

HANS-GÜNTER ESCHKE: Die Bewusstmachung des Menschseins in seinem ganzen Ausmaß als Prozess einer der Menschheit eigentümlichen, und damit die Individuen in eigentümlicher Weise ergreifenden kulturellen Selbstentwicklung und Selbstfindung ist das Ergebnis einer langwierigen, im wahrsten Sinne des Wortes revolutionären Bewegung im Geistesleben seit dem Ausgang des Mittelalters. Diese Entwicklung vollzieht sich in widerspruchs- und konfliktreichen geschichtlichen Auseinandersetzungen mit antiken, mittelalterlichen, religiös bestimmten Weltanschauungen seit der Renaissance, über die Aufklärung bis zum klassischen Humanismus und den darauf aufbauenden Anschauungen, die bleibenden Einsichten dieses Humanismus verpflichtet sind. Das ergibt sich aus historisch reproduzierenden, damit weiterhin wirksamen allgemeinen Bedürfnissen der Menschheit, die zur Befriedigung drängen.

Wer nur Besonderheiten sieht, übersieht jene allgemeinen, in die Zukunft reichenden Bedürfnisse der Menschheit und fühlt sich bemüßigt, aus der Fülle von besonderen Kulturformen eine besondere in den Rang einer allgemeinen "Leitkultur" zu erheben. Der allgemeine Begriff der Kultur hingegen ist selbst ein geistiges Produkt der Aufklärung, der gerade auch die allgemeinen, sich historisch reproduzierenden Bedürfnisse der Menschheit erfasst. Im vernünftig-aufklärerischen Begriff der Kultur fasst sich eine langwierige weltanschauliche Erkenntnisentwicklung der Menschheit zusammen, philosophisch-theoretisch komprimiert durch Immanuel Kant, der die reichen Bemühungen in der Menschheit um ein vernünftiges Verständnis des Sachverhalts auf den Begriff brachte.

Er fand heraus, dass geschichtlich betrachtet "... die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur" geschehen, "die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandelt."(3) Kant hat damit das allgemeine Prinzip und die Maßstäbe aller Kultur vernünftig zusammengefasst.

Der Vorzug dieser knappen Formel, der zufolge das allgemeine Wesen der Kultur eigentlich im gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht, liegt auf der Hand: Erstens werden darin nicht mehr nur einige vermeintlich "auserwählte" Individuen, Klassen oder Stände bzw. Völker, sondern der Mensch, die Gattung Mensch als eigenes Wesen, alle Menschen aller Völker, Nationen "Kulturkreise" umfassend, erfasst.

Zweitens werden die menschlichen Individuen hier nicht abstrakt "an sich", sondern in ihrer Bezogenheit auf die Gesellschaft begriffen, also nicht mehr nur als Naturwesen, deren ausgezeichnete Qualität sei, Bewusstsein zu haben. Damit wurde ein wertvoller Schritt getan zur Anerkennung der Gesellschaftlichkeit des Menschen als spezifische Differenz zu den anderen Lebewesen, auch wenn diese Gesellschaftlichkeit durch Kant in der Form der Moral vorwiegend idealistisch gefasst wird.

Drittens charakterisiert Kant die Kultur als einen Wertbezug und hebt damit hervor, dass es keine wertfreie Kultur gibt. Das Bezeichnende dieses Wertbezugs ist nun: Der Mensch erscheint nicht als ein von Gott oder von einer gottgewollten Gesellschaft gemachtes Wesen, sondern als sich selbst tätig entwickelndes gemeinschaftliches Wesen, ein für die Gesellschaft wertvolles Wesen. Deshalb schrieb Kant auch seine Anthropologie "in pragmatischer Hinsicht", die im Unterschied zu einer Anthropologie in physiologischer Hinsicht nicht auf das gerichtet ist, was die Natur aus dem Menschen macht, sondern auf die Erkenntnis dessen geht, "was er als frei handelndes Wesen aus sich selber macht und machen kann und soll."(4) Und dieses Machen ist den Individuen nur möglich im Verein mit anderen Individuen in der Gesellschaft.(5) Das bezieht sich auf alle die verschiedenen Ebenen und Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, nicht auf nur vereinzelte.

Diese der Aufklärung eigene weltbürgerliche Sicht auf die Menschheit, auf die Ganzheit sowohl der (gesellschaftlich verschieden organisierten) Gattung als auch auf die "Menschheit in der Person eines jeden"(6), das Wesen des Individuums, ist eine grundlegende theoretische und methodologische Errungenschaft philosophisch-weltanschaulichen Denkens. Sie bleibt dem Anliegen philosophischer Denkungsart treu, die Stellung des ganzen Menschen in der ganzen Welt, dem Urgrund aller Existenz, zu erfassen. Und sie kann nicht veralten!

Das Zusammennehmen von Menschheit als gesellschaftliche Daseinsweise der Gattung mit der "Menschheit in der Person eines jeden" findet bei Hegel die weitere allgemeine dialektisch-philosophische Erklärung: "Das Ganze ist die sich bewegende Durchdringung der Individualität und des Allgemeinen."(7) Auf den Menschen bezogen lässt sich dann daraus der für das Verständnis der Kultur methodologisch bedeutsame Schluss ziehen: "Es ist vor allem zu vermeiden, die 'Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung - erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich vollbrachten Lebensäußerung - ist daher eine Äußerung und Betätigung des gesellschaftlichen Lebens."(8)

Kant macht zudem ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Auffassung von Kultur, als den gesellschaftlichen Wert des Menschen betreffend, geradezu zu einer historischen Betrachtung menschlicher Kulturentwicklung herausfordert. Den Kern der pragmatischen Anthropologie mit geschichtlicher Betrachtung verbindend kann und muss man die Kulturgeschichte als Selbstentwicklung des gesellschaftlichen Wertes des Menschen begreifen. Diese Richtung, bei der anthropologisches mit praktisch soziologischem Denken und beides mit historischer Sichtweise innig verflochten wird, macht die konsequente logische Grundtendenz der ferneren aufklärerischen Denkweise in der Frage nach der Kultur aus.

Fasst man das Gesagte kurz zusammen, so lässt sich feststellen: Kultur ist die individuelle und gesellschaftliche Pflege alles dessen, was jeweils historisch notwendig und möglich ist, die geistigen und praktischen Vermögen der Menschen und der zwischenmenschlichen Beziehungen veredelnd herauszubilden und praktisch-gesellschaftlich wirksam werden zu lassen, geeignet, den gesellschaftlichen Wert aller Menschen herauszubilden, zu wahren und zu entwickeln.

FREIDENKER: Was ist das nun, der gesellschaftliche Wert des Menschen?

HANS-GÜNTER ESCHKE: Es gibt bereits zu denken, dass Kant nicht von dem Wert des einzelnen Individuums für die Gesellschaft, sondern vom gesellschaftlichen Wert des Menschen spricht. Das deutet darauf hin, diese Wertrelation nicht als Einbahnstraße zu betrachten, sondern als Wechselbeziehung: Es geht sowohl um den Wert des Individuums für die Gesellschaft als auch um den Wert der Gesellschaft als Daseinsweise des Menschen für die Entwicklung und Entfaltung des Individuums als eines gesellschaftlichen Wesens. (Die Menschheit in der Person eines jeden.) Vor allem fällt auf, dass es auch in dieser Hinsicht um eine Ganzheitsbeziehung geht, um die wechselseitige Beziehung des ganzen Individuums zum Ganzen der Gesellschaft, der konkreten Daseinsform der Menschheit.

Die Aussage, dass Kultur "eigentlich im gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht", macht den Inhalt der humanistischen Auffassung aus. Sie lässt sich sogar noch genauer in Bezug auf das Wertvolle im Individuum fassen. Im ersten "Brockhaus" von 1837 erfahren wir unter dem Stichwort "Kultur": "Cultur wird nach dem Lateinischen im Allgemeinen das Bestreben genannt, die einer Sache innewohnenden Kräfte zweckmäßig zu entwickeln, und man spricht in diesem Sinne von der Cultur des Bodens, worunter dessen zweckmäßiger Anbau verstanden wird, als von der geistigen und körperlichen Cultur oder Ausbildung des Menschen ... "(9) Hier haben wir das aufklärerische Prinzip näher erklärt, wenn auch mit einem Element versetzt, das die spätere Einengung erahnen lässt: Kultur, bezogen auf den Menschen, besteht in der Weckung, Förderung, Entfaltung und Entwicklung, kurz: Pflege der inneren Kraftpotentiale, der Wesenskräfte der Individuen und der durch sie gegründeten und getragenen gesellschaftlichen Formen.

Diese sind aber ihrem Wesen nach kreativ und produktiv, da der menschliche Lebensgewinnungsprozess in der Produktion (= "Aneignung der Natur vonseiten des Individuums innerhalb und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform"(10)) und als Produktion Kreativität enthält. Schließlich produziert der Mensch "Dinge", die es als solche in der Natur nicht gibt und schafft aus den ihm eigenen Naturanlagen gesellschaftlich geformte menschliche Leistungsvermögen, die das vorgegebene Natürliche überschreiten. Gerade an der Individualität und Originalität dieser Vermögen ist hinsichtlich menschlichen Fortschritts gelegen, von ihnen geht Fortschritt aus. Die "Ausbildung" als Zwecksetzung menschlicher Erziehung ist da schon zu eng angelegt, deutet auf ein Verlassen des wesentlich umfassenderen geistigen Horizonts der Aufklärung hin, für die all-, real vielseitige Bildung der Zweck der Erziehung war.

Viele der Schriften jener Zeit atmen den die ganze Menschheit umspannenden Geist. Und das waren nicht nur allgemeine philosophische Schriften in spekulativem Geist, sondern die Quintessenz einer weltanschaulichen Entwicklung seit der Renaissance, die immer mehr den tätigen Menschen ins Zentrum weltanschaulichen Denkens rückten. Auch durch Handelsverbindungen und "Weltumseglungen" (wir erinnern hier nur an James Cook, Georg Forster u.a.) gewonnene ethnologische Erkenntnisse boten Verallgemeinerungen zu weltanschaulicher Gesamtsicht auf das Menschsein reichhaltige empirische Nahrung.

Unserer humanistischen Grundposition entspricht menschliche Vernunft als angemessene realistische Denkweise: Sie geht den Zusammenhängen von Mensch und Welt in allen Problemen auf den Grund, betrachtet sie in ihren weltlichen Zusammenhängen, in ihrer eigenartigen Selbstentwicklung, erfasst in objektiver Hinsicht diese Beziehungen konkret als Einheit mannigfaltiger Bestimmungen und fasst in subjektiver Beziehung das begriffliche Denken mit der sinnlichen Tätigkeit zusammen.

Demgemäß wenden wir uns gegen jede Form des Irrationalismus, sowohl gegen klerikale Ansprüche und ebenso gegen ideologische Bemühungen mittels Umdeutung der menschlichen Vernunft, die der Logik ganzheitlichen menschlichen Lebens folgt, entsprechend der 'Markt-Rationalität' ethische Grundsätze im Sinne kapitalistischer Ökonomik 'umdefinieren' zu wollen. Solche partikularisierende Degradierung der Vernunft zu etwas Besonderem neben Besonderheiten einzelwissenschaftlicher Verstandesbestimmtheit durch eine vorgeblich 'nichtmetaphysisch-ethische Denkweise' schafft den Ansprüchen theologischen Denkens, etwas 'der Philosophie' und den Wissenschaften Übergeordnet-Einheitstiftendes zu sein, einen günstigen Nährboden.


Prof. Dr Hans-Günter Eschke ist Philosoph
Er lebt in Jena und Mitglied im DFV Jena.


Anmerkungen:

(1) Albert Schweitzer: Kultur und Ethik. (Beck'sche Reihe, 1150) München: Beck 1990, S. 35.

(2) vgl. Wolfgang Becker (Hrg.): Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1998, S. 29.

(3) Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Hermann Klenner (Brg.): Immanuel Kant, Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie. Berlin: Akademie-Verlag 1988, S. 199f.

(4) Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. a.a.O., S. 29.

(5) vgl. ebenda, S. 282.

(6) vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. (PhB, Bd. 41) Leipzig: Felix Meiner 1947, S. 54.

(7) ebenda, S. 298.

(8) Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). In: MEW, EB I. S. 538f.

(9) Bilder-Conversationslexikon für das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung. In vier Bänden. Erster Band: A - E. Leipzig: F. A. Brockhaus 1837. S. 487.

(10) vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. In: MEW, Bd. 42.


*


Quelle:
Freidenker - Nr. 3-07 September 2007, Seite 8-13, 66. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
Schillstraße 7, 63067 Offenbach
E-Mail: vorstand@freidenker.de
Internet: www.freidenker.de

Erscheinungsweise: vierteljährlich
Bezugspreis jährlich Euro 10,- plus Versand.
Einzelheft Euro 2,50 plus Versand.
(Für die Mitglieder des DFV ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten.)


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Februar 2010