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GESELLSCHAFT/014: Der Kirchenstaatsvertrag und seine Voraussetzungen (Freidenker)


Freidenker Nr. 1-10 März 2010
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Der Kirchenstaatsvertrag und seine Voraussetzungen - notwendige Überlegungen

Von Wolfgang Brauer


Die Kirche hat einen guten Magen,
Hat ganze Länder aufgefressen,
Und doch noch nie sich übergessen;
Die Kirch' allein, meine lieben Frauen.
Kann ungerechtes Gut verdauen.
(Goethe, FAUST I)


Anlässlich der Debatten um den Staatsvertrag des Landes Berlin mit der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz wurde die Frage nach der Notwendigkeit respektive rechtlichen Belastbarkeit des Abschlusses von Staatsverträgen mit Institutionen, die nachgewiesenermaßen keine Völkerrechtssubjekte ("Staaten") sind, gestellt. Verfechter des Staatsvertragsgedankens argumentieren diesbezüglich gern mit der Notwendigkeit, von Berliner Landesseite historische Gesetzgebungen von Verfassungsrang, an die auch das Land Berlin gebunden sei, bedienen zu müssen. In diesem Zusammenhang werden bevorzugt der Reichsdeputationshauptschluß und die Weimarer Reichsverfassung zitiert. Es lohnt daher, einen genauen Blick auf diese beiden Verfassungsdokumente zu werfen.


1. WeIchen Wert hat der Reichsdeputationshauptschluß für das Land Berlin?

Am 7. März 1801 wurde zwischen der antifranzösischen Fürstenkoalition und der Republik Frankreich der Friedensvertrag von Luneville geschlossen. Dieser hatte die für das Heilige flämische Reich Deutscher Nation verheerende Folge der kompletten Abtretung der linksrheinischen Territorien an die Republik Frankreich bzw. die von ihr installierte Batavische Republik. Nach monatelangen komplizierten Verhandlungen beschloss der Immerwährende Reichstag (eine Institution, die im Gefolge des Westfälischen Friedens von 1648 geschaffen wurde) auf seiner letzten Sitzung überhaupt am 25. März 1803 den sogenannten Reichsdeputationshauptschluß, das letzte Verfassungsdokument des Reiches.


Was regelt der Hauptschluß überhaupt?

In erster Linie werden Abfindungsleistungen der durch die Angliederung an Frankreich ihrer Territorien verlustig gegangenen Herren (inklusive des Umganges mit ihren "Altschulden") geregelt. Wie gesagt, es geht um Abfindungen - nicht um fortdauernde Zahlungsverpflichtungen des Reiches zu welchem Ziele auch immer und dann noch mit einer Wirkungsdauer bis in das 21. Jahrhundert hinein! Um diese leisten zu können, wurden komplizierte Regelungen der Auflösung geistlicher ("Säkularisierung") und weltlicher ("Mediatisierung") Territorien mit der Folge ihrer Eingliederung in ökonomisch und politisch potentere Territorien getroffen. Es handelte sich mitnichten um eine Ausplünderung der Kirchen zugunsten geldgieriger Fürsten. Dies ist eine Legende, die v.a. seitens klerikalhöriger Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts kreiert und gepflegt wurde - und merkwürdigerweise auch von kirchenkritischer Seite bis heute kolportiert wird. Der Entstehungszweck dieser Legende ist so durchsichtig wie banal: Den Territorialstaaten bzw. ihren Rechtsnachfolgern (bis hin zur Bundesrepublik Deutschland) sollte das schlechte Gewissen über den schändlichen Umgang mit den Kirchen so tief implantiert werden, dass diese ohne weiteres Nachfragen quasi reflexartig bereit waren, Steuergelder in die Säckel der Kirchen umzuleiten.

Merkwürdigerweise kamen weder die von der Mediatisierung betroffenen Reichsstädte noch die Reichsritterschaft auf solche Ideen. Verschwiegen wird auch gern, dass viele von der Säkularisation betroffene geistliche Fürstentümer (wie z.B. die Fürstbischöfe von Würzburg, Kempten und Eichstätt - von letzterem ist verbürgt, dass er sich selbst zur eigenen Investitur den Krummstab ausleihen musste, weil der Domschatz verhökert resp. verpfändet war) de facto bankrott waren. Interessant ist, dass die fürstlichen Kanzlisten sehr wohl einen Unterschied machten, zwischen dem für charitative, bildungspolitische und seelsorgerische Funktionen genutzten Besitzungen und den quasi für sonstige "staatliche" und de facto private Verwendungszwecke genutzten Vermögenswerten. Erstere wurden von den Enteignungsregelungen des Hauptschlusses ausgenommen - in der Umsetzung der Säkularisationsfestlegungen wurde dies in der Regel respektiert. Paragraph 63 des Hauptschlusses ist eindeutig:

Die bisherige Religionsübung eines jeden Landes soll gegen Aufhebung und Kränkung aller Art geschützt seyn; insbesondere jeder Religion der Besitz und ungestörte Genuß ihres eigenthümlichen Kirchenguts, auch Schulfonds nach der Vorschrift des Westphälischen Friedens ungestört verbleiben; dem Landesherrn steht jedoch frei andere Religionsverwandte zu dulden und ihnen den vollen Genuß bürgerlicher Rechte zu gestatten.

§ 37 regelt, dass Güter und Einkünfte, welche Spitälern, Fabriken, Universitäten, Kollegien und andern frommen Stiftungen (gehörten) (...) diesen auf der rechten Rheinseite fortdauernden Anstalten verbleiben ... über die "linke Rheinseite" hatte das Reich verständlicherweise keine Verfügungsgewalt mehr. § 64 schreibt diese Regelung für die Mediat-Stiftern, Abteyen und Klöstern in den zu säcularisirenden Landen fort - auch wenn deren sonstige Güter der freien und vollen Disposition der respectiven Landesherrn, sowohl zum Behuf des Aufwandes für Gottesdienst, Unterrichts- und andere gemeinnützige Anstalten (sic! Brauer), als zur Erleichterung ihrer Finanzen überlassen wurden (§ 35).

Um jeglichen Missverständnissen und Missbräuchen vorzubeugen, fügten die Autoren noch den Paragraphen 65 ein:

Fromme und milde Stiftungen sind, wie jedes Privateigenthum, zu conserviren, doch so, daß sie der landesherrlichen Aufsicht und Leitung untergeben bleiben.

Um juristische Schlupfwinkel zu verstopfen (offenbar konsultierte man sich mit dem prozessgeplagtem Reichskammergericht zu Wetzlar) erklärte § 68, dass auch bei

denjenigen geistlichen Ländern, welche (...) unter mehrere vertheilt werden, auch hinsichtlich der kirchlichen, religiösen Verfassung und dergleichen, alle diejenigen Grundsätze in Anwendung zu bringen (sind), welche hier oben schon festgesetzt worden.

Der Reichsdeputationshauptschluß eignet sich also überhaupt nicht zur Legitimierung kirchlicher Ansprüche auf nun auch noch staatsvertraglich fixierte Finanzforderungen. Das Gegenteil ist der Fall. Soweit es damaligem Staatsrechtsverständnis überhaupt entsprechen konnte (die Legitimitätsansprüche der deutschen Fürsten waren noch immer gottbezogen, soweit ging deren Aufklärung denn doch nicht!), zog man eine sehr deutliche Grenze zwischen staatlichen und kirchlichen Anrechten. Man ließ wahrlich die Kirche im Dorfe. Ändern sollte sich dies erst in der nachnapoleonischen Restaurationsphase.

Dies geschah weniger aufgrund überbordender "Aussöhnungsbedürfnisse". Thron und Altar bedurften einer wechselseitigen Immunisierung gegen den französischen Bazillus. Aber auf das System Metternich wird sich doch heute wohl niemand ernsthaft berufen wollen.


Ein notwendiger Nachsatz.

Im Gefolge der im Juli 1806 erfolgten Gründung des Rheinbundes (er umfasste den Großteil der Fläche der alten Bundesrepublik) legte Kaiser Franz II. am 6. August 1806 die Reichskrone nieder und trennte zugleich die habsburgischen Gebiete zugunsten des neuen Kaiserreiches Österreich vom Reiche ab. Zugleich löste er auch die noch vorhandenen minimalsten staatlichen Strukturen des Reiches auf:

"Wir entbinden zugleich Churfürsten, Fürsten und Stände und alle Reichsangehörigen, insonderheit auch die Mitglieder der höchsten Reichsgerichte und die übrige Reichsdienerschaft, von ihren Pflichten, womit sie an Uns, als das gesetzliche Oberhaupt des Reichs, durch die Constitution gebunden waren."

Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war Geschichte. Der im Ergebnis des Wiener Kongresses konstituierte Deutsche Bund hatte mit dem Reiche allenfalls noch eine gewisse territoriale Ähnlichkeit. Die Gesetzgebung des Reiches war nach 1806 nur noch von seminaristischem Interesse, das betrifft auch den Reichsdeputationshauptschluß. Für heutiges politisches Handeln hat er denselben Wert wie die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karl V. - oder besser der Weingartner Vertrag von 1525 des Truchseß von Waldburg mit dem Bodenseehaufen der aufständischen Bauern. Die hatten immerhin das Kloster Weingarten geplündert. Da gab es schon Aussöhnungsbedürfnisse. Die löste der "Bauern-Jörg" allerdings mit Blut ein.

Damit kann die Ausgangsfrage mit einem Wort beantwortet werden: KEINEN.


2. Welchen Wert hat die Weimarer Reichsverfassung für das Land Berlin?

Da es zu weit führen würde, die ganze Wirrnis von Verträgen und Verfassungstexten zweier Jahrhunderte ausbreiten zu wollen, machen wir einfach den großen Schnitt und besehen das Grundgesetz etwas genauer und - müssen feststellen, dass die Väter der bundesdeutschen Verfassung einfachheitshalber die sehr präzisen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung übernommen haben:

Artikel 140
Recht der Religionsgesellschaften: Glaubensfreiheit; Schutz von Sonn- und Feiertagen. Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138,139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.

Die Weimarer Verfassung postuliert hinsichtlich der Staatsleistungen an die Kirchen folgendes:

Artikel 138
(1) Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf. (2) Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet.

Gebrochen wurde das Verfassungsgebot von Art. 138 (1) erstmals im Jahre 1924 durch den Freistaat Bayern, der mit dem Vatikan das Bayerische Konkordat abschloss. Die damalige Staatsregierung wollte sich nach Räterepublik und Hitlerputsch einerseits die Unterstützung von Klerus und Landvolk sichern, andererseits Berlin die blau-weiße Karte zeigen. Das tolerierte denn auch stillschweigend diesen Verfassungsbruch - Preußen, Baden und schließlich das Reich selbst zogen nach. Dass die Evangelischen Kirchen sich ihrerseits das entsprechende Stück vom staatlichen Kuchen sicherten, ist nachvollziehbar.

Artikel 140 OG wird vorsätzlich gebrochen. Ginge es den Kirchen tatsächlich nur um die Absicherung staatlicher Zuschüsse für "Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke" - damit und nur damit argumentieren diese -, so ließe sich dies sehr leicht im Rahmen der gebotenen Landesgesetzgebung lösen: Über die Haushaltsgesetzgebung nämlich wie bei jedem anderen Zuwendungsempfänger auch.

Allerdings käme dann wieder das Parlament ins Spiel - und das wird mit dem juristischen Trick eines Staatsvertrages vorsätzlich ausgeschaltet.

Übrigens wird durch den Kirchenstaatsvertrag mit der Evangelischen Kirche die Verfassung mindestens an zwei weiteren, hochsensiblen Punkten tangiert:

1. Artikel 136 (3) der Weimarer Verfassung sichert jeder und jedem staatlichen Schutz vor individuell nicht gewünschter Offenbarung der Religionszugehörigkeit zu. Im Falle des neuen Unterrichtsfaches "Ethik usw." dürfte sich dies kaum noch grundsätzlich durchhalten lassen - ebenso wie der ordentliche Religionsunterricht "Bekenntnisunterricht" ist (was ja in Ordnung ist), dürften sich die geplanten "koordinierten Unterrichtseinheiten" mit dem Unterricht aus "authentischem (sprich zunächst evangelischem - Brauer) Munde" in einem lebendigen Schulleben kaum "bekenntnisfrei" gestalten lassen.

2. Berlin verlässt ebenfalls die immer wieder zitierte Bremer Klausel und zieht sich sukzessive noch hinter Artikel 7 GG zurück:

(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.

"Ethik usw." wird Pflichtfach. Das ist politisch gewollt - in dieses allerdings wird entsprechend Schlussprotokoll zu Artikel 5 Staatskirchenvertrag ein Segment Religionsunterricht "implantiert", das selbstverständlich "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt" werden wird. Naturalmente von diesen erteilt - von wegen der Authentizität.

Die "Deutungshoheit der "Weltanschauungsgemeinschaften" über weltanschauliche Fragen - welch skurrile Erfindung! - wird festgeklopft.

Angesichts dieser sehr weiten Tore in Richtung Pflicht- (nicht Wahl-!) Fach Religion im Lande Berlin, wundert nicht, dass seitens der Evangelischen Landeskirche der Widerstand gegen das neue rot-rote Wertefach inzwischen verhaltener, fast rhetorisch gar, ausfällt. Die einzigen, die es noch nicht begriffen haben, sind deren Handlungsgehilfen in der Berliner CDU.

Zur Ausgangsfrage:

Die Weimarer Verfassung gilt auch für das Land Berlin in ihren Artikeln 136, 137, 138, 139 und 141 - jedenfalls solange sich das Land Berlin im Geltungsbereich des Grundgesetzes befindet. Und das gebietet landesgesetzliche Regelungen, keine Staatsverträge.

Eigentlich bleiben nur zwei Hoffnungen. Eine formuliert das Grundgesetz (auch hier dem Weimarer Text folgend) in Artikel 31: Bundesrecht bricht Landesrecht. Auf die zweite weist nun wieder der Reichsdeputationshauptschluß hin, dessen Verfasser so weise waren, im § 76 hinsichtlich der Zahlungsverpflichtungen der Landesherren zu formulieren, "so weit diese Einkünfte reichen". "Haushaltsvorbehalt" nennt man das heute.

Die Verfasser des Staatsvertrages wollten diesen nicht (den schreibt übrigens die Landesverfassung vor). Warten wir die Kassenlage ab.


Wolfgang Brauer (MdA)
20. Februar 2006


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Quelle:
Freidenker - Nr. 1-10 März 2010, Seite 36-40, 68. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
Schillstraße 7, 63067 Offenbach
E-Mail: redaktion@freidenker.org
Internet: www.freidenker.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2010