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BERICHT/182: Ethikunterricht auf gutem Weg? (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 79/2007 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Ethikunterricht auf gutem Weg?
Eine erste Zwischenbilanz des Berliner Experiments

Von Norbert Böhnke


Was hatte die Einführung des in dieser Art in Deutschland bisher einmaligen neuen Unterrichtsfachs für Aufregung gesorgt. Der rot-rote Senat wolle den Religionsunterricht aus den Schulen drängen, Schüler sollten durch den Staat indoktriniert werden. Das sei ja wie in der DDR, eine Gruppe eifernder Christen gründete gleich analog zur Kirche im Widerstand gegen die Nazidiktatur einen "Notbund", zog auf die Straße und vor Gericht. Erfolglos und dies keineswegs "Gott sei Dank". Denn inzwischen liegen erste Erfahrungen mit dem neuen Fach vor und Nüchternheit scheint bei der Betrachtung die Oberhand zu gewinnen. So bilanzierte der für den katholischen Religionsunterricht verantwortliche Schulrat Rupert von Stülpnagel in einem Radiointerview, es gäbe zwar Probleme durch die Verlegung des Religionsunterrichts in Randstunden, der Rückgang der Schülerzahlen sei aber nicht auf das neue Fach, sondern auf die rückläufigen Schülerzahlen geburtenschwacher Jahrgänge zurückzuführen.


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Zur Durchsetzung des gemeinsamen Fachs Ethik nach jahrelangen Diskussionen im öffentlichen und parlamentarischen Raum hatte sich in Berlin das Forum "Gemeinsames Wertefach für Berlin" gegründet. An ihm beteiligten sich unter anderem die SPD, die Linke, die Grünen, die GEW und der HVD. So konnte in diesem Schuljahr erstmals in allen 7. Klassen der Ethikunterricht starten, dessen Ziel laut Paragraf 12 des Berliner Schulgesetzes ist, "die Bereitschaft und Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer kulturellen, ethnischen, religiösen und weltanschaulichen Herkunft zu fördern, sich gemeinsam mit grundlegenden kulturellen und ethnischen Problemen des individuellen Lebens, des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie mit unterschiedlichen Wert- und Sinnangeboten konstruktiv auseinander zu setzen. Dadurch sollen die Schülerinnen und Schüler Grundlagen für ein selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Leben gewinnen und soziale Kompetenz, interkulturelle Dialogfähigkeit und ethische Urteilsfähigkeit erwerben."

Auf einer sehr gut besuchten Veranstaltung des Forums im Februar 2007 konnte eine erste positive Zwischenbilanz gezogen werden. Das neue Fach stößt sowohl im Ost- als auch im Westteil der Stadt bei Schülerinnen, Schülern und bei den Eltern auf Interesse und auf eine überwiegend positive Resonanz. Zwölf Ethiklehrer und -lehrerinnen berichteten auf der Veranstaltung von ihren konkreten Unterrichtserfahrungen von der Hauptschule bis zum Gymnasium; von ersten positiven Ansätzen im Umgang miteinander wie auch vom mühsamen, aber entstehenden Dialog untereinander. Vier große Probleme kristallisierten sich dabei heraus:

(1) Die Klassen mit oft 30 bis 35 Schülern und Schülerinnen sind gerade für diese Form des Werteunterrichts viel zu groß. Erfahrene Pädagogen und Pädagoginnen, die nach eigenen Angaben über eine hohe Methodenkompetenz verfügen, bedauerten, dass bei dieser Klassenstärke gerade in späten Stunden der Unterricht mit Siebtklässlern oft nur mit äußerster Anstrengung durchzuführen sei. Gerade die Bedingungen an Schulen in sozialen Brennpunkten und mit hohem Migrantenanteil zeigen, wie weit hier die öffentlichen Verlautbarungen der Politik und die Realität auseinander klaffen.

(2) An vielen Schulen werden Lehrkräfte ohne Ethikausbildung nach dem Motto: "Kollege, Sie sind doch unsere Allzweckwaffe, übernehmen Sie mal" für diesen Unterricht eingesetzt. Die Antwort des Bildungssenators auf eine Anfrage der CDU, im Prinzip könne jeder Lehrer in jedem Fach eingesetzt werden, ist zwar rein rechtlich korrekt, trägt aber zu einer Abwertung des eigenen Vorhabens bei. Und welcher Deutschlehrer wird denn in der Praxis im Chemieunterricht eingesetzt?

(3) Der Vorsitzende des Bundesfachverbandes Ethik, Peter Kriesel, wies darauf hin, dass in Brandenburg von 800 ausgebildeten LER-Lehrern 750 die Möglichkeit wahrnahmen, durch eine besoldungsrelevante Prüfung eine Besserstellung zu erlangen. Für die Berliner Ethiklehrer und -lehrerinnen ist eine solche Möglichkeit unverständlicherweise bisher nicht vorgesehen.

(4) Zwar bringen die Schulbuchverlage jetzt auch speziell auf den Berliner Ethikrahmenlehrplan abgestimmte Bücher heraus, etliche Verlage waren auch auf der Veranstaltung präsent, aber nach wie vor fehlen handlungsorientierte Lehr- und Lernmaterialien, die nicht so wortlastig sind.


"Glauben alle Päpste an Gott?"

Aus meinem eigenen Ethikunterricht an der Carl-Zeiss-Schule, einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe, zeigen zwei Schüler-Feedbacks die Bandbreite von typischen Reaktionen auf das neue Fach: "Ethik macht Spaß, weil wir hier in der Schule endlich mal über uns, über unsere Probleme reden können." "In Mathematik sagt mir der Lehrer, was richtig und was falsch ist. Im Ethikunterricht ist es anders. Das nervt!" Schüler und Schülerinnen genießen es, dass sie selbst zum Unterrichtsgegenstand oder zumindest oft zum Ausgangspunkt des Unterrichtsgeschehens werden. Andererseits verunsichert sie das neue Fach zunächst. Denkgewohnheiten werden in Frage gestellt, Dilemmatadiskussionen werden angezettelt, für die es keine einfachen Lösungen gibt, und was soll man von einem Lehrer halten, der erklärt, in seinem Fach gäbe es nicht nur für gute Antworten, sondern vor allem auch für gute Fragen gute Noten.

Da habe ich in der Tat schon spannende Fragen gehört: Warum ist in vielen Religionen Enthaltsamkeit so wichtig? Warum wollen manche Religionen nicht, dass man sich von ihrem Gott ein Bild macht? Gab es schon einmal einen Papst, der nicht an Gott glaubte? Oder, wenn sich Jens zu Hassan umdreht: "Was ich euch Moslems schon immer einmal fragen wollte..." Und wenn Akram fragt: "Ihr Christen sagt doch: 'Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.' Wer sind die eigentlich?" Und es gibt auch spannende Antworten in diesen siebten Klassen. So schrieb eine Schülerin auf die Frage im Lerntest: "Welche Lebensregeln sind für dich persönlich wichtig und wie begründest du sie?": "Dass ich ich selbst bin und mir treu bleibe, weil man mich so mögen soll, wie ich bin und mich nicht mögen soll, weil ich jemanden nachmache. Träume nicht dein Leben, lebe deine Träume, weil man sonst nicht weiterkommt im Leben." Doch tauchen auch Konflikte auf, die nicht unmittelbar mit dem Unterrichtsgeschehen zu tun haben. So meldete sich ein Junge - übrigens ein moslemischer, türkischstämmiger Junge - mit den Worten: "Herr Böhnke, hiermit bin ich nicht einverstanden. Das ist doch rassistisch!" Er wies darauf hin, dass in der Klasse ein Passfoto einer Mitschülerin herumgereicht wurde. Dieses Mädchen war schon seit längerem Zielscheibe von Hänseleien. Ein Junge hatte Augen und Mund des Mädchens übermalt und ihr damit symbolisch ihre Persönlichkeit genommen. Auch hatte er das Wort "Jude" auf die Stirn geschrieben. Als ich ihn damit konfrontierte, sagte er, dass sei nur ein Spaß. Auf die Frage, warum er für diesen Spaß das Wort "Jude" benutzt habe, gab er dafür keine Erklärung. Ein Mädchen erklärte dann anstatt seiner: "Jude bedeutet Opfer". Andere Schüler und Schülerinnen riefen laut dazwischen: "Was regen Sie sich denn so auf, das Wort benutzen wir alle hier in der Klasse doch so." Natürlich könnte solch ein Zwischenfall auch im Sportunterricht auftreten und horribile dictu ist das beinahe Alltag in der Schule. Aber der Ethikunterricht bietet nicht nur die Möglichkeit, darauf mit einem Elternbrief und einem Jahrgangsausschuss (Massenkonferenz) für den betreffenden Schüler zu reagieren, sondern darüber hinaus Menschenwürde, Rassismus und Antisemitismus direkt zum Thema des Unterrichts zu machen. Und es können dabei ganzheitliche Methoden wie z.B. das hierfür hervorragend geeignete Diversity-Training aus dem "Eine Welt der Vielfalt"-Programm angewandt werden.

Darüber hinaus bietet der Ethikunterricht die Möglichkeit, die Sichtweisen der Schüler und Schülerinnen durch die Zusammenarbeit mit den Religionen und Weltanschauungen zu erweitern und zu vertiefen. So erlebten wir eine Stunde mit dem Okkultismusbeauftragten des Humanistischen Verbandes Uli Tünsmeyer, der über skeptisches Denken sprach und seine Aufklärungszauberei vorführte. "Nein, der hat nicht nur gezaubert. Es ging auch darum, dass wir genau hingucken und nachfragen und uns von niemandem manipulieren lassen", sagte ein Schüler zu seinem Kumpel, der in der Stunde gefehlt hatte.


Die Welt ist kein immer währendes Weihnachts-, Chanukka- oder Opferfest

Ethikbücher tun so, als lebten wir noch nicht in einer säkularisierten Welt. So wichtig religiöse Feste und Rituale sind, warum werden weltliche Feiertage wie z. B. der 1. Mai, der internationale Frauentag, der Tag der Menschenrechte etc. nicht thematisiert? Und ich vermisse, dass es in den Ethikbüchern auch Beispiele, Positionen und Zitate gibt wie das folgende: "Ich jedenfalls brauche, um ein moralisches Wesen zu sein, keinen obersten heiligen Schiedsrichter." Salman Rushdie im Interview mit dem "Spiegel" vom 28.8.06. Gerade in Berlin, einer Stadt, in der mehr als 60 Prozent konfessionslose Menschen leben, sollten neben religiösen auch säkulare, humanistische, agnostische und atheistische Positionen einen gebührenden Platz im Ethikunterricht haben.

Norbert Böhnke unterrichtet an der Carl-Zeiss-Schule Deutsch, Sport und Ethik und ist im Landesvorstand Berlin des HVD verantwortlich für das Fach Humanistische Lebenskunde.


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 79/2007, S. 26-27
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2007