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BERICHT/205: Symposium "turmdersinne" - Künstliche Sinne, gedoptes Gehirn (diesseits)


diesseits 4. Quartal, Nr. 85/2008 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Künstliche sinne, gedoptes Gehirn
Das Symposium turmdersinne 2008 in Nürnberg

Von Inge Hüsgen


Das gehörlose Mädchen Lena kann wieder hören. Dank einer winzigen Elektrode im Innenohr, eines Cochlea-Implantats, lernt es jetzt sprechen und wird eine Regelschule besuchen.


Lernerfolge versprechen sich auch die vielen US-Studenten, die Pillen schlucken, um länger wach und konzentriert zu bleiben. An manchen Universitäten greifen bis zu 25 Prozent nach den Mitteln, die ursprünglich zur Behandlung von Schlafstörungen entwickelt wurden.

Nur zwei Beispiele für Eingriffe in den Wahrnehmungsapparat, wie sie heute alltäglich sind. Und die Entwicklung bleibt nicht stehen: Je besser Wissenschaftler die Arbeitsweise des Gehirns verstehen, desto größer die Möglichkeiten der Neurotechnik - mit einschneidenden Folgen für unser Menschenbild.

Kein Zweifel, für das 11. Symposium turmdersinne hatten die Organisatoren ein hochaktuelles Thema gewählt und hochkarätige Experten eingeladen. Tatsächlich wirft die Neurotechnik grundlegende Fragen zum Verständnis von Gesellschaft und Ethik auf. Dass das Symposium keine endgültigen Antworten lieferte, liegt auf der Hand. Mit einem pointierten Überblick über das Thema schärfte die Veranstaltung allerdings das Verständnis für eine Diskussion, die in den nächsten Jahren wohl noch an Vehemenz zunehmen wird.

Weitgehende Einigkeit herrscht bei der ethischen Einschätzung von therapeutischen Anwendungen, wie dem eingangs erwähnten Cochlea-Implantat. Schwieriger ist es im Fall der amerikanischen Studenten, den der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger in seinem Einführungsvortrag schilderte. Zwar haben sie im Gegensatz zu Leistungssportlern keine Dopingkontrollen zu befürchten und nicht wenige finden nach bestandener Prüfung eine adäquate Stelle. Aber so lange sie die Position nur behalten können, wenn sie sich weiterhin aus dem Medizinschrank bedienen, liegt der Gedanke an eine Form der "Drogenabhängigkeit" nahe, wie sie Gabriel Curio, Neurologe an der Berliner Charité, in der abschließenden Podiumsdiskussion diagnostizierte.

Enhancement (engl. Steigerung, Verbesserung) nennt man solche Eingriffe zur Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit bei Gesunden. Ob und in welchem Maße die körperlichen, kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Menschen durch Neurotechnologie verbessert werden dürfen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Während Kritiker einen Verlust der Menschlichkeit und einen Persönlichkeitswandel, ja den Verlust der Menschlichkeit fürchten, vertreten viele Befürworter von Enhancement die Ansicht, dass damit nur fortgesetzt wird, was Erziehung und Bildung schon seit jeher leisten.

Sinnvoll für eine differenzierte Beurteilung ist die Unterscheidung zwischen moderatem und radikalem Enhancement, wie sie der Düsseldorfer Philosoph Bernward Gesang vornahm.

Vertreter des radikalen Enhancements plädieren dafür, die bisherigen Grenzen menschlicher Fähigkeiten zu sprengen, um Menschen etwa einen IQ von 180 oder gar künstliche Sinneserweiterungen wie beispielsweise eine Infrarot-Sichtigkeit zu ermöglichen.

Einige fordern sogar eine Gesellschaft von lauter "getunten" Individuen. Allerdings wären die Kosten immens, die Folgen unübersehbar. Sicher, eine Welt voller Genies bringt Unmengen guter Ideen hervor. Aber bekommen auch alle die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten auszuspielen oder droht ein unzufriedenes Heer von beruflich unterforderten Hochbegabten?

Dies gilt auch für das moderate Enhancement. Darunter versteht man die mäßige Steigerung vorhandener Eigenschaften, wie sie auch durch Training oder Psychotherapie zu erreichen ist. Zwar ließe sich das Szenario durch einen reglementierten Zugang zu Enhancement-Technologien verhindern, aber dies brächte neue Probleme mit sich. Auch darauf wies Bernward Gesang in der abschließenden Podiumsdiskussion des Symposiums hin: "Durch Etablierung einer erblichen Zwei-Klassen-Gesellschaft würden soziale Ungerechtigkeiten verschärft, ein Großteil der Bevölkerung sähe sich aller Aufstiegschancen beraubt, der soziale Friede wäre in Gefahr."

Dennoch zeigten sich die Diskussionsteilnehmer aufgeschlossen gegenüber dem moderaten Enhancement. Denn verantwortungsvoll angewandt, könne auf diese Weise Chancengleichheit geschaffen statt vernichtet werden, indem beispielsweise Menschen mit niedrigem IQ auf einen Durchschnittswert gebracht werden.

Das nächste Symposium turmdersinne trägt den Titel "Geistesblitz und Neuronendonner. Intuition, Kreativität und Phantasie" und findet vom 9. bis 11. Oktober 2009 in Nürnberg statt. Als Einführungsreferent ist der bekannte Neurobiologe Prof. Gerhard Roth angefragt.
Programm und Information ab 2009 unter www. turmdersinne.de.


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Quelle:
diesseits 4. Quartal, Nr. 85/Dezember/08, S. 26-27
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2009