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BERICHT/221: USA - Humanistische Urlaubspost (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 92/2010 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Greetings from the States
Humanistische Urlaubspost

Von Lutz Renken


Seit einigen Jahren nimmt meine Frau Kathleen mich und unsere Kinder um den 4. Juli herum mit in ihre Heimat - eine Halbinsel im Nordosten der USA - um ihre Seite der Familie und unsere Freunde am anderen Ufer des Atlantiks zu besuchen, so auch in diesem Jahr. Da wir bisher keine Erfahrungen mit Humanisten in den USA hatten - wir sind erst vor ungefähr fünf Jahren auf den HVD in Deutschland aufmerksam geworden - wollten wir nun sehen, ob und wie sich Humanisten in Kathleens Heimat organisiert haben und was sie so umtreibt.


Nach einer kurzen Internetrecherche war klar: Es gibt dort tatsächlich einige Humanisten, die "Humanists of First Parish and Cape Cod". First Parish ("Erste Gemeinde") ist eine kleine Kirche der Unitarian Universalists in Brewster, Massachusetts. Um herauszufinden, wie das alles zusammenhängt und was das für Leute sind, nahmen wir Kontakt zum Vorsitzenden dieser Gruppe auf und wurden prompt zu Limonade und Kuchen in dessen Haus eingeladen.

Dort angekommen und an den auf der Einfahrt geparkten Autos vorbei - einem Prius Hybrid und einem konventionellen Oldsmobile-Stufenheck - fiel uns der mit Liebe gestaltete Vorgarten auf, der sich von den anderen Vorgärten vor allem durch mehr oder weniger abstrakte Bronze-Figuren unterschied.

Bob und Johanna sind vor zwei Jahren von New Jersey hierher gezogen, nachdem Bob pensioniert wurde. Er hatte zuvor als Wissenschaftler im Bereich der Nanotechnologie gearbeitet und widmet sich nun - neben der Aufgabe eines Präsidenten einer lokalen Humanisten-Gruppe - vermehrt seinem Hobby, dem Gießen von Kunstwerken aus Bronze. Die örtlichen Humanisten hatten sie im Laufe der letzten zehn Jahre kennengelernt, seit sie ihr jetziges Haus als Sommerdomizil kauften, um es nach und nach zum Alterssitz auszubauen. Während ihrer Sommeraufenthalte waren sie mit den Leuten der First Parish oft wandern gegangen und hatten sich schließlich den Humanisten dort angeschlossen. Vor gut einem Jahr hatte Bob die Präsidentschaft der Gruppe übernommen. Dies scheint eine übliche "Humanistenkarriere" zu sein, es ist aber auch bezeichnend für die Verhältnisse in den USA.


Entscheidend ist die Gemeinschaft

Die USA sind ein Land mit einer traditionell ausgeprägten Mobilität. Es ist völlig normal, wenn Familien mehrmals ihr Haus verkaufen, um sich in einem anderen Teil des Landes niederzulassen. Besonders in ländlichen Gebieten ist es üblich, dass man sich aktiv einer Kirchengemeinde oder einer anderen religiösen Gruppe anschließt, um Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der sich ein Großteil des sozialen Lebens abspielt. Dabei zählen religiöse Ausrichtung und Glaubensgrundsätze oft weniger als andere Aspekte, wie die sozialen Aktivitäten der Gruppe, politische und soziale Einstellungen oder der gesellschaftliche Status. So finden sich auch Atheisten, Agnostiker und Humanisten in solchen Gemeinschaften wieder, besonders bei den Unitariern (Unitarian Universalists, UU), Ethical Societies, aber auch in reformierten jüdischen Gemeinden und unter liberalen Quäkern.


Kaum Christen in der Gemeinde

Die Gemeinde der First Parish of Brewster ist eine solche Unitarische Gemeinschaft (UU), deren Pastorenstelle sich ein lesbisches Paar teilt. Kaum ein Gemeindemitglied sieht sich als Christ, ein Großteil als "non-theist", also als agnostisch oder atheistisch. Vor etwa zehn Jahren schlossen sich zehn Gemeindemitglieder zur Gruppe der "Humanists of First Parish and Cape Cod" zusammen. Seitdem wächst die Gruppe und besteht keineswegs nur aus Unitariern. Bob und einige weitere aus dieser Gruppe sind Mitglieder der American Humanist Association (AHA). Die AHA listet assoziierte Gruppen wie diese auf ihrer Internetseite und fördert deren Aktivitäten mit einem jährlich Geldbetrag (15$) pro AHA-Mitglied, obwohl sie keine ordentlichen Gliederungen der AHA darstellen.

Der Schwerpunkt liegt bei dieser Gruppe auf den zweimonatlich am Sonntagnachmittag stattfindenden, gut besuchten Vorträgen mit anschließender Diskussion. Die Referenten sind meist Experten von außerhalb. Bei der Suche nach Referenten sind sowohl die AHA als auch andere säkulare Organisationen, wie z.B. das Center for Inquiry (CFI) behilflich.

Themenbeispiele im vergangenen Jahr waren Geschichte und Praxis der Folter, Hintergründe zum politischen Streit über einen Offshore-Windpark, eine Debatte zwischen Bob und dem örtlichen Polizeichef zur Legalisierung von Drogen, eine Filmvorführung zum Thema Kreationismus mit anschließendem Pizzaessen, etc. Auch die Fragen, die sich die Mitglieder zu ihrem Selbstverständnis stellen, sind ähnlich und die Antworten ähnlich polarisiert, wie wir es aus unseren Gruppen zu Hause kennen: Inwieweit wollen wir "missionieren" bzw. mit unseren Positionen an die Öffentlichkeit gehen? Wollen wir uns an Buskampagnen beteiligen? So streiten sich die Humanisten von "First Parish and Cape Cod" z.B. gerade um die Frage, ob sie ihre Verbindung zur Unitariergemeinschaft aus ihrem Namen streichen sollten, um für Außenstehende attraktiver zu werden, auch wenn sie dadurch evtl. auf die kostenfrei zur Verfügung gestellten Räume der Unitarier verzichten müssen.


Teil der säkularen Szene

Eines fiel bei der Beschreibung der Gruppe durch Bob und Johanna besonders auf: die heterogene Zusammensetzung und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich als Humanisten als Teil der gesamten säkularen Szene mit den verschiedenen Organisationen sehen. Die Aussagen der Funktionäre dieser Organisationen, dass die alten Grabenkämpfe durch die immer stärkere Vernetzung der "einfachen Mitglieder" untereinander und durch die verbesserte Zusammenarbeit auf organisatorischer Ebene mehr und mehr der Vergangenheit angehören, scheint sich hier zu bestätigen.

Wir hatten jedenfalls einen angenehmen Nachmittag bei neuen Freunden verbracht, die uns sofort sehr vertraut waren. Nicht nur, da wir uns in vielen Dingen einig waren oder zumindest mit ähnlichen Fragen beschäftigen, vielmehr war es die offene, direkte Art, sich ehrlich, kritisch und humorvoll auszutauschen. Wir werden sie im nächsten Sommer bestimmt wieder besuchen.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 92 3/2010, S. 6-7
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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Telefon: 030/613 904-41
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Internet: http://www.humanismus.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2010