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PORTRAIT/017: Der "rasende Reporter" und die Wahrheit (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 91/2010 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Der "rasende Reporter" und die Wahrheit
Erinnerungen an Egon Erwin Kisch zu seinem 125. Geburtstag

Von Ralf Bachmann


Als ich Ende 1947, siebzehnjährig und den Kopf voller Flausen, am Rande einer Konferenz des "Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" in Dresden den berühmten Schriftsteller Ludwig Renn (u. a. "Adel im Untergang", "Trini", "Nobi") fragte, ob ich besser Journalist oder Schriftsteller werden solle, blinzelte er mich ein wenig spöttisch lächelnd an und antwortete: "Das hängt von deinen Augen ab - ob du mit geschlossenen Augen erkennst, was du schreiben willst, oder nur mit geöffneten Augen. Der Reporter schreibt, was er sieht, der Dichter sieht, was er schreiben wird." Nach einer Weile fügte er hinzu: "Es gibt nur ganz wenige, die beides können. Einer davon ist der Kisch." Renn riet mir dringend, Egon Erwin Kischs Bücher zu lesen. Vielleicht gebe es später einmal im Kulturbund (zu dessen sächsischem Landesvorsitzenden er gerade geworden war) Gelegenheit, ihn zu treffen und selbst zu fragen. Er habe im Exil in Mexiko eng mit Kisch zusammengearbeitet und könne mir dabei helfen.


Schon wenige Wochen nach diesem Gespräch starb Egon Erwin Kisch am 31. März 1948 in Prag. Zu dem Treffen war es nicht mehr gekommen. Und dennoch hat Kisch mein Journalistenleben in vieler Hinsicht geprägt. Muss man ihn vorstellen? Egonek, wie ihn seine Freunde nannten, wurde vor 125 Jahren, am 29. April 1885, als zweiter von fünf Söhnen des Prager jüdischen Textilhändlers Hermann Kisch geboren und ist mit dem Titel "Rasender Reporter" in die Geschichte der Journalistik eingegangen. Beide Teile dieses von ihm akzeptierten Ehrennamens sind nicht ganz exakt: Ja, er hat die ganze Welt bereist, aber nicht mit wehenden Rockschößen durchrast. Seine Reportagen sind nicht die flüchtigen Skizzen eines eilenden Touristen, sondern sorgsam recherchiert und bedächtig, mit Liebe für Details und gesellschaftliche Zusammenhänge, geschrieben. Die Schrift der Manuskripte zeugt von seinem Umgang mit der Sprache. Das ist keine hastige Stenografie. Im Gegenteil. Fast alle Ober- und Unterlängen zieren markante und vor allem zeitraubende Kringel. Sie gaben ihm Zeit zum nochmaligen Überdenken jedes Wortes. Er ist auch nie nur betrachtender Reporter, nimmt Anteil, ergreift Partei, wird zum Anwalt der Leidenden, der Unterdrückten, der Objekte seines Werkes, zu dem neben den Reportagen ein Roman und mehrere Theaterstücke gehören.

Kischs Lebensweg ist - der von zwei Weltkriegen und zwölf Jahren Nazideutschland geprägten Zeit geschuldet, in der er lebte - höchst abenteuerlich, aber dabei immer gradlinig und klar. Kisch-Experte Klaus Haupt stellt in seiner inhaltsreichen Biografie für die Berliner Reihe "Jüdische Miniaturen" fest: "Er war ein Mann mit Charisma und Charakter - ein jüdischer Kommunist. Er liebte die Wahrheit und den Report über das wahre Leben über alles - ein Reporter und Schriftsteller mit Leidenschaft."

Dennoch - in Schubläden kann man ihn nicht sperren. Er soll einmal über sich selbst gesagt haben: Ich stamme aus Prag, ich bin Tscheche, ich bin Deutscher, ich bin Jude, ich bin Kommunist, ich komme aus einem guten Haus - irgendetwas davon hat mir immer geholfen.

Zu seinem Judentum hat sich Kisch stets und selbstverständlich bekannt. Etliche seiner Schriften zeugen davon, wie vertraut ihm jüdischer Kultus und jüdische Bräuche waren. Aber zur vermeintlichen "Gretchenfrage", dem Glauben, wahrte er, ähnlich wie Heinrich Heine und am Ende noch konsequenter Distanz als der jüdisch Beschnittene, evangelisch Getaufte, katholisch Vermählte, aber ohne Priester und Rabbiner Bestattete. Im Leben verstand sich das bei Kischs politischen Positionen von selbst. In seinen Schriften zählen satirisch-blasphemische Darstellungen der himmlischen Zustände als "überirdische" Widerspiegelung des irdischen Klassenwesens zu den literarischen Höhepunkten. Man denke zum Beispiel an die unvergleichliche "Himmelfahrt der Galgentoni".


Die Obdachlosen beim Mühlenbrand

Schon früh, in seiner ersten Zeit als Lokalreporter in der Moldaustadt, kam er in Konflikt mit seiner Doppelbegabung als Dichter und Journalist und musste eine Entscheidung treffen. Im Kapitel "Debüt beim Mühlenfeuer" des autobiografischen Bandes "Marktplatz der Sensationen" beschreibt Kisch sein Scheitern als Berichterstatter über einen großen Mühlenbrand. Alle Reporterkollegen hatten Details der Entdeckung des Brandes und des Einsatzes der Feuerwehren recherchiert, Fakten ermittelt, die allerdings im Fachjargon unter die Kategorie "interessant, aber langweilig" fielen. Er jedoch kam in der Nacht mit leerem Block in die Redaktion der "Bohemia", wo man anderthalb Spalten für seinen Bericht freigehalten hatte. Der einzige Ausweg, den er da fand, war das Dichten.

Kischs Bleistift sah das Drängen einer Gruppe Obdachloser vom nahegelegenen Nachtasyl gegen den Polizeikordon um die Brandstelle, beschrieb Landstreicher mit gegerbten Gesichtern, wirren Bärten und struppigen Haaren. An dem Bericht stimmte nur die Überschrift "Brand der Schittkauer Mühlen". Dieses Phantasieprodukt erschien den Lesern aber viel spannender als die langweiligen Tatsachenberichte der Kollegen. Er wurde gelobt, bei der Konkurrenz rollten Köpfe. "Der Stein der Wahrheit, der nur um einen hohen Preis zu erwerben ist, ist von seiner billigen Imitation nicht zu unterscheiden", schlussfolgert Kisch aus dieser Erfahrung. "Sollte ich also bei der Lüge bleiben? Nein. Gerade weil mir bei der ersten Jagd nach der Wahrheit die Wahrheit entgangen war, wollte ich ihr fürderhin nachspüren. Es war ein sportlicher Entschluss."


Barchenthöschen und unabsehbare Konsequenzen

Und eben auf dieser Jagd erlangte er Weltruhm. Es begann mit Mordgeschichten aus der Prager Unter- und anrührenden Schicksalen aus der dortigen Halbwelt. Zum klassischen Vorbild des investigativen Journalismus wurde der Sensationsbericht darüber, dass der österreichische Generalstabschef Redl ein russischer Spion war. Profaner Ausgangspunkt der Recherche war gewesen, dass Kischs Fußballelf "Sturm" ein über den Aufstieg entscheidendes Spiel verlor, weil Verteidiger Wagner, von Beruf Schlosser, wegen eines "militärischen Auftrages" unentschuldigt fehlte. Sehr oft stehen am Anfang scheinbare Alltäglichkeiten, wie der langweilig startende "Hippodrom"-Besuch der sommersprossigen Postbediensteten mit den blassroten Barchenthöschen, durch den Kisch am Ende von einem Telegramm erfährt, in dem der deutsche Kaiser "unabsehbare Konsequenzen" androht. Sind die Handlungsorte zunächst meist Prag und Umgebung, so später "Paradies Amerika", "China geheim", "Asien gründlich verändert", "Entdeckungen in Mexiko", um nur die wichtigsten Reisebücher zu nennen. Manchmal hat man den Verdacht, Kisch habe sich bei aller Wahrheitsliebe im Großen doch zumindest in manchen Einzelheiten einen Hauch von augenzwinkernder Leserveralberung erlaubt. Überführen kann man ihn nie, schließlich sagt man, es müsse wohl doch so gewesen sein.

Mein erster journalistischer Rückgriff auf Kisch erwies sich freilich eher als Fehlgriff. Jeder Leipzig-Besucher lernt schon bei der ersten Stadtrundfahrt den neobarocken Mendebrunnen auf dem Augustusplatz kennen, aus dessen figurenreichem Becken ein achtzehn Meter hoher Obelisk in den Himmel ragt. Ein geschickter Fotograf kann ihn durchaus als Phallussymbol wirken lassen, und das erschien mir damals gut so. Dem Ratschlag Renns folgend hatte ich mir 1949/50, vorwiegend in Antiquariaten, etliche Kisch-Bücher gekauft und war ganz stolz, in einem davon den Artikel "Das Vermächtnis der Frau Mende" zu entdecken.


Das Vermächtnis der Maria Pauline Mende

Kisch enthüllte darin sehr konkret, die Stifterin und Namensgeberin des Brunnens, Frau Maria Pauline Mende, habe zu Lebzeiten in der Marienstraße 4 ein Nobelbordell betrieben und der Leipziger Stadtrat habe der Errichtung des Brunnens mit ihrem in goldenen Lettern eingemeißelten Namen nur deshalb zugestimmt, weil sie daneben auch Dame des Königlich Sächsischen Sidonienordens gewesen sei. Da habe die Bordellchefin nun so ein "Monument, auf das jeder Anspruch erheben darf, der hinreichend viel Geld besitzt. Woher es stammt, ist gleichgültig."

Ich war damals Redakteur der Leipziger Volkszeitung und überzeugte meinen Chefredakteur, diesen gesellschaftskritischen Artikel als ganze Seite in der nächsten Wochenendausgabe nachzudrucken. Das geschah, wie die Internetserie "Leipziger Kunstorte" noch heute missbilligend registriert, in der LVZ-Ausgabe Nr. 500 im Mai 1950. Ob ich auch den da zitierten Kommentar geschrieben habe, man dürfe für die (wegen der Neugestaltung des Platzes geplante) Umsetzung eines so anrüchigen Brunnens "keinen Pfennig verschwenden", weiß ich nicht mehr sicher. Zuzutrauen wäre es mir schon.

Bereits am Montag danach schlug das Mendeimperium zurück. Ein Rechtsanwalt sprach beim Chefredakteur vor und behauptete, es habe zwei Witwen namens Mende in der Marienstraße gegeben, eine Hinterbliebene des ehrenwerten Posamentenhändlers Ferdinand Wilhelm Mende und eine Etablissementbesitzerin. Herr Kisch habe die Damen verwechselt. Das sei schon bei der Erstveröffentlichung 1927 klargestellt worden. Nachweisen konnte er das nicht, und so einigte man sich gütlich darauf, den Beitrag nicht noch einmal zu veröffentlichen, was ohnehin keinen Sinn gehabt hätte. Ob Kisch geschlampert oder der Rechtsanwalt geflunkert hat, weiß ich bis heute nicht genau. In Kischs Werken (Aufbau-Verlag) ist 1972 "Das Vermächtnis der Frau Mende" ohne jede Anmerkung enthalten. Der "rasende Reporter" selbst hatte es in die Sammlung "Wagnisse in aller Welt" aufgenommen. Ob das vielleicht ein Hinweis ist? Ob er ausnahmsweise um der Story willen gewagt hatte, ein Recherchierauge zuzudrücken? Oder ob irgendwer in Leipzig (vergeblich) verhindern wollte, dass der Pöbel das markante Bauwerk auf dem größten Platz der Stadt "Nuttenbrunnen" nennt? Eigentlich macht es die Sache ja nur spannender, wenn man diese Fragen nicht endgültig beantworten kann.


Zum Weiterlesen:
Egon E. Kisch, Ilija Trojanow: Die schönsten Geschichten und Reportagen. - Berlin : Aufbau, 2008


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 91 2/2010, S. 24-28
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"diesseits" erscheint vierteljährlich am
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2010