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STANDPUNKT/182: Spiritualität unter weltlichen Humanisten - die Debatte ist nicht beendet (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 92/2010 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Spiritualität unter weltlichen Humanisten - die Debatte ist nicht beendet

Von Hugo Gephard


Spiritualität ist unter Humanisten ein Begriff, der eher gemieden wird. Unsere areligiöse und auch antireligiöse freidenkerische Tradition zum einen, aber auch unsere bewusste Entscheidung für die rationalen Methoden der Aufklärung und für ein naturalistisches Weltbild hat in der humanistischen Bewegung entweder zu einem "Sich damit nicht beschäftigen wollen" oder auch einer deutlichen Ablehnung des sogenannten Spirituellen geführt.


Für eine solche Distanz gibt es durchaus gute Gründe, denn was Spiritualität heutzutage bedeuten kann, ist je nach Ansicht des Nutzers oder Anbieters beliebig und häufig esoterischer Hokuspokus. Ferner ist der Begriff der Spiritualität von christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften für ihren Glauben an Gott und Transzendenz besetzt. Insofern sei zunächst aus religionswissenschaftlicher Sicht der Frage nachgegangen: Was ist "Spiritualität"?

Zugrunde liegt dem Begriff das lateinische Wort spiritus (Atem, Geist oder Seele). Das Adjektiv "spirituell" ist seit dem 3. nachchristlichen Jahrhundert gebräuchlich und meint "geistig" im Sinne einer religiösen Lebensausrichtung. Vermutlich geht es zurück auf Vorstellungen vom "Heiligen Geist" als Vermittler zwischen Mensch und Gott. Die Herkunft des Substantivs "Spiritualität" ist in der katholischen Theologie zu suchen, wo es eine mönchische Lebensweise beschrieb. Über lange Zeit kaum genutzt, wird erst im 20. Jahrhundert, in Deutschland seit den 50er-Jahren, wieder von Spiritualität gesprochen und meint einen aktiven Frömmigkeitsstil für Ordinierte, Ordensleute und Laien.

Unabhängig von der katholischen Tradition entstand vor allem im angelsächsischen Sprachraum in protestantischen und freireligiösen Kreisen eine Verwendung des Begriffs spirituality, der mehr einen individuellen Glauben und eine persönliche Gottesbeziehung in den Vordergrund stellte. Insofern wurde er auch als Gegenposition zur kirchlichen Dogmatik verstanden und in die Nähe der Mystik gerückt. In Anlehnung an diese Bedeutung wurde der Begriff gegen Ende des 19. Jahrhunderts einerseits von westlichen und asiatischen Intellektuellen aber auch von Vertretern neureligiöser Strömungen auf nichtchristliche Religionen wie den Hinduismus und Buddhismus übertragen.

In der religiösen und esoterischen Gegenwartskultur ist Spiritualität inzwischen zu einem Modewort geworden. Fast jede Form der Sinnsuche gilt inzwischen als spirituell und die meisten Angebote der Esoterik und des sogenannten Psychomarkts werden unterschiedslos zu spirituellen Wegen erklärt. Selbsterkenntnis, Bewusstseinserweiterung, Spontaneität und das Betonen der emotionalen Komponente bei der Sinnsuche kennzeichnen diese Vorstellungen von Spiritualität; eine neue, spirituelle Religiosität wird somit gegen die rituellen Aspekte tradierter Religionen gesetzt.

Ferner hat sich der Begriff bei einer zunehmend an Bedeutung gewinnenden Richtung von Psychotherapie eingebürgert, der integralen und transpersonalen Psychotherapie. Ihr Verständnis von Spiritualität will eine Transformation und Integration von Religion und Wissenschaft sein. Sie kümmert sich nicht um die Grenzen von Kulturen und historischen Religionen.

Häufig wird in der Psychologie unter Spiritualität ein Prozess der "Vergeistigung" verstanden, der sich gegen die sogenannte materialistische Weltsicht und die vermeintliche Seelenlosigkeit der Moderne richtet.


Atheistisch-humanistische Spiritualität?

Trotz dieser deutlich religiösen Ausrichtung des Begriffs, gibt es inzwischen auch innerhalb der atheistischen und humanistischen Bewegung Positionen, die klar auffordern, die spirituelle Dimension des Menschen für die humanistische Lebensauffassung zu akzeptieren, die Spiritualität als ein allgemein menschliches Bedürfnis nicht den Religiösen zu überlassen. So hat der humanistische Philosoph Joachim Kahl Anregungen hinsichtlich einer zu entwickelnden humanistischen Spiritualität bereits im Jahr 2000 in dieseits formuliert.

Für Kahl ist "ein Humanismus, der keine spirituelle Dimension entfaltet, armselig und steril, verkürzt auf Rationalismus. (...) Spiritualität heißt Geistigkeit, Geistorientiertheit. Gemeint sei damit: die geistige Einstellung zum Leben, die innere Haltung zur Wirklichkeit, und zwar gemüthaft vertieft, Verstand und Gefühl umgreifend. Insofern ist klipp und klar zwischen Spiritualität und Religiosität zu unterscheiden. (...) Spirituelle Bedürfnisse sind gemüthafte Bedürfnisse: das Verlangen nach Sinn, Ziel, Halt, Ordnung, Trost, Mut im Leben. Wie alle geistigen Bedürfnisse, die zur Natur des Menschen gehören, können sie eine religiöse und eine nicht-religiöse Antwort finden."

Kahl bleibt mit seiner überkonfessionell gefassten Definition von Spiritualität in Kategorien, die in den Humanwissenschaften eher als seelische, psychische oder mentale Prozesse beschrieben werden. Zwar versucht er ein säkulares Verständnis von Spiritualität darzustellen, er vermeidet aber eine kritische Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass diesem Begriff aufgrund seiner geschichtlichen Prägung letztlich eine transzendente Vorstellung von Geist zu Grunde liegt - sei es der "Heilige Geist", ein "Göttlicher Geist", ein "Weltengeist", oder ein "kosmisches Bewusstsein".

Sein Anliegen, eine Brücke von Humanisten und Atheisten zu einer breiten Strömung des Zeitgeistes - den sogenannten spirituell Suchenden - zu schlagen ist ehrenwert, nur müssen wir deshalb keineswegs transzendent orientierende Vorstellungen übernehmen. Geistige Prozesse lassen sich durchaus mit Begriffen wie "psychisch" und "mental" beschreiben und sie lassen sich aufgrund neuer Forschungsergebnisse aus Psychologie, Neurobiologie oder Evolutionsbiologie immer besser verstehen und erklären.


Spiritualität ohne Gott

Eine weitere deutliche Argumentation für das Aufgreifen des Spirituellen im Rahmen einer atheistischen Lebensauffassung findet sich beim französischen Philosophen Andre Comte-Sponville. Dabei sieht er sich verortet in vielfältigen nicht religiösen philosophischen Traditionen für ein gelungenes und glückliches Leben: beispielsweise den Weg des Tao oder des Buddha oder antiken Philosophien wie der Stoa, Epikur und Lukrez.

"Nur weil ich Atheist bin, will ich doch meine Seele nicht kastrieren! Geist ist eine zu bedeutsame Sache, als dass man sie den Priestern, Mullahs oder Spiritualisten überlassen dürfte." Für Comte-Sponville ist Spiritualität vorrangig gekennzeichnet durch sehr persönliche, mystische Erfahrungen, die des "Einswerdens mit dem Großen Ganzen". In solchen auf den Moment begrenzten Erlebnissen der Auflösung des subjektiven Alltagsbewusstseins sieht er eine allgemeine Erfahrung menschlicher Existenz, die in religiösen Zusammenhängen häufig als Erfahrung Gottes erlebt werden, für ihn aber keineswegs religiös bedingt sein müssen.

Nur warum er dann einen religiös besetzten Begriff dafür einführen will, ist wenig überzeugend. Denn das ein Erleben außergewöhnlicher, das alltägliche Bewusstsein überschreitender Momente und ein Ergriffensein von der Unendlichkeit des Universums oder der Vielfalt der Natur auch rationalen Menschen keineswegs fremd ist, wissen wir nicht erst seit Kant: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."

Die modernen Neurowissenschaften können inzwischen erklären, was neurologisch geschieht, wenn Menschen sogenannte mystische oder ergreifende Momente erleben. Die Gehirnforscher Singer und Ricard stellen die Ergebnisse der Forschung über solche Phänomene vor und belegen somit, dass es sich um ungewöhnliche aber durchaus natürliche Fähigkeiten des menschlichen Geistes handelt. Sie beschreiben solche "Augenblicke des Glücks" folgendermaßen: "Ganz plötzlich fällt die Last ihrer inneren Konflikte von ihnen ab. Sie fühlen sich im Einklang mit anderen, mit sich selbst, mit der Welt. Das gibt ihnen ein gutes Gefühl, und der innere Konflikt ist eine Zeitlang verschwunden. Solche Momente zu erleben und auszukosten ist phantastisch."


Freier Geist, klarer Verstand

Zu Vorsicht beim Gebrauch des Begriffs Spiritualität rät ebenfalls der humanistische Philosoph Michael Schmidt-Salomon. Er verweist auf die - neben der religiösen - auch dualistische Bedeutung des Begriffs. "Denn von seiner Wortbedeutung her legt Spiritualität nahe, dass es doch so etwas wie einen Körper-Geist-Dualismus gäbe, dass geistige Prozesse über den körperlichen stünden und man mit ihrer Hilfe letztgültige, das menschliche Erkenntnisvermögen überschreitende Wahrheiten (z.B. 'Gott' oder den 'Sinn an sich') erkennen könne. Dergleichen kann es jedoch in einem naturalistischen Weltbild nicht geben."

Damit verweist Schmidt-Salomon zu Recht auf ein dem Begriff Spiritualität implizites Verständnis von "Geist", das aufgrund moderner Forschungsergebnisse inzwischen überholt ist.

Historisch betrachtet, umfasste das Verständnis von Geist oder Seele eine göttlich bedingte, unsterbliche, immaterielle Substanz, die für alle speziell menschlichen Fähigkeiten verantwortlich gemacht wurde und gleichzeitig den Menschen über die Natur hinaus als ein besonderes Wesen - Gottes Ebenbild auf Erden - herausstellte. Wie es der Berliner Philosoph Michael Pauen treffend beschreibt, konnte in einer vorwissenschaftlichen Kultur die Vorstellung von Seele als der Atem Gottes im Menschen sowohl die vitalen Funktionen des Körpers, die man mit seinem letzten Atemzug aushauchte, als auch die geistigen Fähigkeiten des Menschen erklären. In fast allen Kulturen finden sich deshalb diese zwei unterschiedlichen Aspekte - die Trennung von Geist und Körper. Sie blieb auch erhalten, als die Wissenschaften schon andere Erklärungsmöglichkeiten der Vitalfunktionen des Körpers kannten. Spätestens mit Entdeckung des Blutkreislaufs und der Nerven im 17. Jahrhundert wird die Seele dafür überflüssig. Doch bis teilweise ins 20. Jahrhundert bleiben die Vorstellungen vom Menschen befangen im Modell einer Zweiteilung von der irdischen Maschine Körper und der geistigen, göttlichen Seele. Derartige Annahmen über die göttliche Herkunft der Seele und ihre Unterscheidung vom Körper und der übrigen Natur werden obsolet vor allem durch die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie, die den ganzen Menschen als einen evolutionär entstandenen Teil der Natur begreifen. Ferner liefert das neurobiologische Modell des Gehirns als ein komplexes neuronales System den Ansatzpunkt für eine plausible Erklärung der kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Geistes. Solche Entwicklungen führen schließlich dazu, dass die wissenschaftliche Theorie darauf verzichtet, die geistigen Fähigkeiten des Menschen - deren Kernpunkte sind nach Pauen Bewusstsein und Selbstbewusstsein sowie die Fähigkeit, frei und verantwortlich zu handeln und sich dabei von Gründen leiten zu lassen - mit übernatürlichen Merkmalen zu erklären. Die Existenz eines göttlichen Geistes oder eines allgemeinen kosmischen Bewusstseins als grundlegendes Substrat menschlichen Bewusstseins ist nach momentanem Kenntnisstand der Forschung nicht plausibel.

Insofern meinen weltliche Humanisten, wenn sie vom psychischen oder geistigen Erleben des Menschen sprechen, damit die vielfältigen und bisher wenig erforschten inneren Erlebnisse des Unbewussten wie des Bewusstseins, die durch neuronale Prozesse im Gehirn bedingt sind. Humanisten vertreten also eher ein naturalistisches denn ein dualistisches (spirituelles) Verständnis vom menschlichen Geist. Insofern lässt sich die geistige Einstellung zum Leben und die innere Haltung zur Wirklichkeit von Humanisten überzeugender mit Begriffen wie ein freier und offener Geist, ein klarer Verstand, innere Gelassenheit, Humor, Mitgefühl und Solidarität beschreiben als mit dem Terminus Spiritualität.


Spiritualität im humanistischen Hospiz?

Als einer der größten Träger von Hospizen in Berlin, gilt es für den HVD, sich der zunehmenden Debatte um Spiritualität in der Hospizarbeit zu stellen. Denn sowohl in den Fachzeitungen wie in den einschlägigen Handbüchern der Hospizarbeit wird Spiritualität stets als eine "zentrale Säule" professioneller und ehrenamtlicher Hospizarbeit beschrieben. Im "Lehrbuch der Palliativmedizin" definiert der katholische Krankenhausseelsorger Erhard Weiher den Begriff Spiritualität zwar eher säkular als "die innere Einstellung, der innere Geist, mit der ein Mensch auf die Widerfahrnisse des Lebens reagiert und auf sie zu antworten versucht... Spiritualität ist das ganz persönliche Ringen um Sinngebung und die innere Lebenseinstellung, mit der der Mensch der existenziellen Herausforderung begegnet..." Seine weiteren Ausführungen - deutlich am christlichen Menschenbild orientiert - machen aber deutlich, wie über die Säule Spiritualität in die professionelle Sozialarbeit im Hospiz letztlich wieder Seelsorge, also ein religiöses Verständnis von Sterbebegleitung, eingeführt werden soll. Deutlicher in diese Richtung argumentiert Tobias Graupner in einer im Hospizverlag erschienenen Schrift. Er proklamiert ebenfalls vier Dimensionen des menschlichen Lebens, die in jeweils unterschiedlicher Intensität alle Lebensphasen eines Menschen prägen: die physische, psychische, soziale und spirituelle. Für ihn ist gerade bei sterbenden Menschen "der Bedarf nach persönlicher Spiritualität und professioneller spiritueller Begleitung sehr hoch." Insofern verwundert es nicht, dass Graupner auch ein klar christliches Verständnis von Spiritualität für die professionelle Hospizarbeit formuliert: "...sie ist ein Grundbedürfnis menschlicher Existenz; sie bezieht sich auf etwas Höheres, Übergeordnetes, Gott..."

Vielleicht kann eine sogenannte spirituelle Dimension hilfreich in christlich geprägten Häusern sein, sie als eine menschliche Dimension zu verallgemeinern und damit für alle - und somit auch säkularen - Hospizeinrichtungen als notwendige Voraussetzung für Professionalität zu erklären, überzeugt nicht.


Eine ungekürzte Fassung mit Quellenangaben erhalten Sie auf Nachfrage bei der diesseits-Redaktion.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 92 3/2010, S. 9-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010