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STANDPUNKT/184: Christen ohne Glauben (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 92/2010 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Christen ohne Glauben

Von Uwe Lehnert


Laut "Forschungsgruppe Weltanschauungen" gehört etwa ein Drittel der Menschen in Deutschland keiner Religionsgemeinschaft mehr an, sie bezeichnen sich als Konfessionslose oder Atheisten. Aber sind es in Wirklichkeit nicht schon viel mehr?

Eine bloße Mitgliedschaft in einer Kirche, der man von Geburt und aus Tradition angehört, sagt über die tatsächliche Einstellung zum Glauben wenig aus. Und in der Tat: Repräsentative Umfragen zeigen, dass nur noch etwa die Hälfte der offiziell ausgewiesenen katholischen und evangelischen Mitglieder sich ihrer Kirche wirklich verbunden fühlt!

So eindeutig dieser Befund den individuellen Bedeutungsverlust der Kirche belegt, so ganz anders die der Kirche im öffentlichen Bewusstsein zugebilligte Rolle. Kein gesellschaftlicher oder politischer Vorgang von grundsätzlicher Bedeutung, der nicht von den obersten Kirchenvertretern kommentiert wird. Ihre durch Konkordate abgesicherte Machtstellung sorgt dafür, dass sie stets und wie selbstverständlich in den Medien zu Wort kommen. Keine Gesprächsrunde im Fernsehen über Abtreibung, Sterbehilfe oder Präimplantationsdiagnostik ohne Kirchenvertreter als quasi letzte ethische Instanz. In einem seltsamen Kontrast zu der sonst kritischen Einstellung zur Kirche wird von einer großen Mehrheit der Bevölkerung die Kirche wie selbstverständlich als Institution angesehen, die für ethisch-moralische Fragen zuständig sei. Die derzeit bekannt gewordenen Missbrauchsfälle werden daran - zumindest vorläufig - auch nichts Grundlegendes ändern.

Jahrhundertelange kirchliche Indoktrination und philosophisches Wirken von Dichtern und Denkern ließen es offenbar als selbstverständlich erscheinen, dass ethische Prinzipien letztlich nur im Göttlichen verankert sein könnten. Dass weder die Bibel noch die Geschichte des Christentums die Kirche als ethisch-moralische Instanz legitimieren, ist nur jenen Menschen bewusst, die sich kritisch sowohl mit den biblischen Schriften als auch mit der höchst beklemmenden Vergangenheit dieser Institution befasst haben. Es kann deshalb nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass so grundlegende und heute selbstverständliche Prinzipien des Zusammenlebens wie das Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit, auf Religionsfreiheit, auf Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, auf Gleichheit der Geschlechter oder auf sexuelle Selbstbestimmung keinesfalls der Kirche zu verdanken sind. Sie sind letztlich Ergebnisse der Aufklärung und einer durch "Vernunft" bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung.

Und auch das muss immer wieder ganz deutlich gesagt werden: Die angeblichen sozialen Leistungen von Diakonie und Caritas, in kirchlichen Krankenhäusern, Kindergärten oder Sozialstationen, beruhen auf einer bewussten Irreführung! Die Kirche gibt ihre eingenommenen Steuern heute für die Gehälter ihrer Bediensteten (unterhalb von Bischof und Kardinal, letztere werden vom Staat bezahlt!) und den Erhalt ihrer Gebäude aus. Die vielfältigen sozialen Leistungen werden fast vollständig aus allgemeinen Steuermitteln und anderen nicht-kirchlichen Kassen finanziert!


Je weniger man weiß, um so fester der Glaube

Die nach wie vor breite Akzeptanz von christlichem Glauben und kirchlichem Anspruch beruht zum Großteil auf einer geradezu grenzenlos zu nennenden Unkenntnis. Wem schon ist die Grausamkeit Gottes im Alten Testament bekannt? Welcher Gläubige hat sich schon klargemacht, welche Unmenschlichkeit in der permanenten Drohung mit ewiger Höllenqual steckt? Wer hinterfragt die Steinzeitlichkeit der christlichen Opfertheologie? Wer hat je sich die Millionen und Abermillionen Menschen, die die Kirche auf brutalste Weise hat zu Tode bringen lassen, vor Augen geführt und mit der angeblichen Botschaft der Liebe konfrontiert? Wer ist über die vielfältigen Finanzströme zugunsten der Kirchen informiert? Der Theologe und Philosoph Joachim Kahl erklärt: "Wer sich über das Christentum nicht empört, kennt es nicht."

Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass die meisten Menschen das alles gar nicht wissen wollen. Ein solches Wissen erfordert Anstrengung und beunruhigt nur. Vor allem beschleicht offenbar so manchen die Sorge, dass der persönlich zurechtgelegte Glaube, in dem man sich so behaglich eingerichtet hat, einer solchen kritischen Bewertung nicht standhalten würde.

Wer von Kindheit an mit dem christlichen Glauben aufwuchs, durch Großmutter und Mutter zu gläubigem Verhalten angehalten wurde, regelmäßig sonntags zur Kirche ging, gefirmt beziehungsweise konfirmiert und dabei reichlich beschenkt wurde und vielleicht auch noch einen guten persönlichen Draht zu seinem Pfarrer hat, sieht meist wenig Anlass, seinen Glauben zum Gegenstand zweifelnden Nachdenkens zu machen. Ein solcher Glaube setzt sich zusammen aus idyllischer Kindheitserfahrung und traditioneller Religionsausübung. Hinzu kam in Predigt und Religionsunterricht das sehr einseitig ausgewählte Angebot biblischer Texte, das den Eindruck einer moralisch herausragenden und für das Leben maßgebenden Schrift vermittelte. Der eigentliche theologische Kern des christlichen Glaubens, nämlich Erlösung der Menschheit durch einen barbarischen Opfertod, wurde wohl selten Gegenstand bewussten Reflektierens.

Punktuelle Wahrnehmung der Bibel, vor allem aber die schmückende Ästhetik der über die Jahrhunderte entwickelten Rituale anlässlich wichtiger persönlicher Ereignisse oder Feste wie Ostern und Weihnachten machen aus einem solchen Glauben einen nur noch äußerlichen Handlungsvollzug, der seinen eigentlichen Inhalt vergessen gemacht hat.


Es könnte doch was Wahres dran sein

Ein anders gelagertes Motiv, seinem Glauben trotz vorhandener Zweifel verbunden zu bleiben, liegt in der Sorge, mit einem Austritt aus der Kirche möglicherweise eine fatal falsche Entscheidung bezüglich des eigenen Seelenheils zu treffen. Schließlich "könnte ja doch was Wahres dran sein". Diese Form des Zauderns entspringt typisch menschlichem Sicherheitsdenken, indem es durch eine Art Doppelstrategie versucht, den möglichen Schaden gering zu halten.

In der Philosophie ist dieses abwägende Verhalten als Pascalsche Wette bekannt geworden. Blaise Pascal (1623-1662) argumentierte, dass es vorteilhafter sei an Gott zu glauben, weil der Erwartungswert des möglicherweise erreichbaren Gewinns größer sei als der Erwartungswert im Falle des Unglaubens. Denn - so seine Überlegung - wenn man gewinnt, gewinnt man alles, wenn man verliert, verliert man nichts.


Auch die Kirche lebt von Anpassern und Mitläufern

Ein dritter Grund, zumindest äußerlich am Glauben festzuhalten trotz innerer Abkehr, ist das psychische Unbehagen vieler Menschen, den eigenen Standpunkt in einer Umgebung mit deutlich anderer Auffassung vertreten zu müssen. Viele Menschen fühlen sich offenbar unwohl, wenn sie sich nicht eins fühlen mit der sie umgebenden Mehrheitsmeinung. Es handelt sich um eine Spielart jenes berühmt-berüchtigten Mitläufertums. So mancher, dem der christliche Glaube längst gleichgültig geworden ist, wagt es dennoch nicht, dieses öffentlich zu bekunden; sei es der Auseinandersetzung mit der Verwandtschaft wegen, der schulischen Entwicklung der Kinder, der beruflichen Karriere oder gar einer vertraglichen Verpflichtung(!) am Arbeitsplatz wegen, was bei Tätigkeiten in "verkündigungsnahen Bereichen" der Fall sein kann. Wer in kirchlichen Diensten steht - die Kirche ist immerhin der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem Staat - ist oft genug zu Heuchelei und Vertuschung gezwungen, denn Ehescheidung, uneheliches Kind, Bekenntnis zu Homosexualität oder gar Austritt aus der Kirche führen in katholischen Arbeitsstellen in der Regel zur Entlassung, in evangelischen werden solche Fälle weniger rigide gehandhabt.

Redlich sind solche Anpassungen an erwartetes Verhalten nicht zu nennen, wohl aber nachvollziehbar in ihrem Zustandekommen und in ihrer lebenspraktischen Bedeutung. Da dieser Mensch Kirchensteuerzahler bleibt, beruft sich die Kirche auch auf ihn als gläubiges Mitglied.


Ist man ein Christ, wenn man kirchliche Musik schätzt?

Aber auch in harmloserer Form können wir das Phänomen der Widersprüchlichkeit von innerer Einstellung und äußerer Bekundung oft genug beobachten. Wer trotz seiner Glaubensferne zum Beispiel in einem Kirchenchor mitwirkt, tut dies, weil er vielleicht ganz einfach die Geselligkeit und diese Musik liebt. Die sonntägliche musikalische Umrahmung des Gottesdienstes ist für ihn ein mit Freude erbrachter künstlerischer Beitrag, losgelöst von dessen eigentlichem Anlass. Um andere nicht zu kränken und um sich nur Unruhe stiftende Diskussionen zu ersparen, würde er seine abweichende Einstellung allerdings nicht laut aussprechen. Nach außen hin aber würde auch er zu dem großen Heer der angeblich Gläubigen zählen.

Auch die ehrenamtliche Mitwirkung in kirchlich-sozialen Einrichtungen findet oft genug statt ohne jeden ausdrücklichen Bezug auf eine christliche Position, vielfach sind es allgemein humanitäre Beweggründe, die solchem kirchlich-sozialen Engagement zugrunde liegen. Überhaupt dürfte die gesellschaftliche Funktion, die die Kirche vielerorts, besonders in ländlichen Bereichen, in Form von geselligen Zusammenkünften, Traditionspflege und Sozialdiensten übernimmt, für viele Menschen Anlass genug sein, sich ihr zugehörig zu fühlen.

So haben sich viele behaglich eingerichtet in der Vertrautheit der eigenen Gemeinde, die man mitunter schon aus Kindheitstagen kennt, wo man den Pfarrer als lebensklugen Menschen schätzt, die Gemeinschaft mit vertrauten Menschen genießt, die auch in schweren Tagen Trost und Hilfe bedeuten kann, und erlebt übers Jahr die Tradition kirchlicher Feste als Bereicherung des Alltags. Es ist dies eine ganz pragmatische Haltung, für die ich sogar Verständnis aufbringen kann. Ein solcher Glaube besteht nach meiner Erfahrung meist nur in dem angestrebten Ziel, ein im christlichen Sinne "guter Mensch" sein zu wollen.


Argumentative Unzugänglichkeit infolge frühkindlicher Indoktrination

Es gibt allerdings eine Form von intellektueller Unredlichkeit in Glaubensfragen, mit der ich große Probleme habe. Ich meine jene Brüche im logischen Denken und Unterschiedlichkeit in den angelegten Maßstäben, wie man sie leider selbst bei renommierten Wissenschaftlern beobachten muss. Auch konnte ich bei manchen meiner Professoren-Kollegen an der Universität feststellen, dass sie bei Fragestellungen, die die christliche Religion betrafen, eine bemerkenswerte Kritiklosigkeit, ja Verharmlosung an den Tag legten, wo sie sonst mit aller intellektuellen Schärfe und erbarmungsloser Unnachsichtigkeit gegen widersprüchliches Denken oder menschenverachtendes Verhalten vorgehen. Dabei ging es um Fragen wie der nach der moralischen Glaubwürdigkeit der christlichen Lehre mit ihren Millionen Opfern aufgrund von kirchlichem Antisemitismus, Inquisition, Hexenverbrennungen und Zwangsmissionierungen, um Kernaussagen der christlichen Lehre wie der nach der leiblichen Wiederauferstehung nach dem Tode oder der Existenz der im Gaubensbekenntnis ausdrücklich erwähnten Hölle oder nach der heutigem gesellschaftlichen Konsens widersprechenden Auffassung von Bibel und Kirche zur männlichen Homosexualität - um nur einige Beispiele zu nennen.

Es war und ist für mich immer noch schwer erträglich, wenn Menschen, die gewiss überdurchschnittlich intelligent sind, bei anderer Gelegenheit nicht ohne eine gewisse Eitelkeit ihr "kritisches Bewusstsein" anklingen lassen, ihre sonstigen Maßstäbe vergessen, die Prinzipien logischen und redlichen Denkens verraten.

Es handelt sich hier um Menschen, die in souveräner Manier für christlich-religiöse Positionen eintreten, im konkreten Fall jedoch Festlegungen vermeiden. Stattdessen verweisen sie in Gesprächen gern auf die Zeitgebundenheit biblischer Texte, auf die symbolisch gemeinte Bedeutung von sakralen Handlungen, auf die gesellschaftliche Notwendigkeit einer jenseitigen absoluten moralischen Instanz, vor allem auf die kulturellen Leistungen des Christentums. Um dies zu verstehen, muss man wohl psychologische Erklärungsmuster heranziehen.

Der Entwicklungspsychologe Franz Buggle führt als Erklärung für dieses Phänomen "frühkindliche religiöse Indoktrination" und "Effekte langer Gewöhnung" an. Es gelingt - so Buggle - offenbar nur wenigen, das in der Kindheit als verehrungswürdig Vermittelte später kritisch zu hinterfragen oder trotz klar vorliegender Sachverhalte aufzugeben.

Aus verständlichen Gründen war die Kirche immer darauf bedacht, die Kinder so früh wie möglich ihrer Obhut zu übergeben. Im frühen Kindesalter werden offenbar besonders leicht Einstellungen geprägt und so tief im Unterbewusstsein verankert, dass sie später so gut wie nicht mehr einer rationalen Analyse zugänglich sind. Eine Überzeugung, die im Wesentlichen durch Gefühle und nicht durch Argumente zustande kam, lässt sich später offenbar kaum durch Argumente erschüttern. In meinen Augen handelt es sich hier nicht um einen Glauben aus Überzeugung, sondern um einen durch frühkindliche - ich scheue diesen Ausdruck nicht - geistige Vergewaltigung erzwungenen.


Zahl der gläubigen Christen drastisch kleiner als die Statistik suggeriert

Ich habe damit fünf wesentliche Beweggründe genannt, weshalb immer noch eine scheinbar so breite Zustimmung zu christlichen Positionen zu beobachten ist, warum immer noch so viele Mitbürger statistisch und dem Augenschein nach als Christen gezählt werden, die eigentlich nicht dazu gezählt werden dürften. Ich bin überzeugt, dass die hier charakterisierten Gruppen von "statistischen" Christen zu einem ganz großen Teil zum Lager der Nichtchristen zählten, wenn es möglich wäre, in einer sachlich fundierten und rational geführten Diskussion die Motive für das jeweilige Verhalten bloßzulegen. Eine solche Diskussion führen zu können, ist aber eine Illusion, weil jede menschliche Entscheidung mindestens gleichzeitig, wenn nicht überhaupt nur von Ängsten, Hoffnungen, Erwartungen und Gefühlen vielerlei Art und - wie dargestellt - von frühkindlichen Prägungen bestimmt ist. Es sind letztlich nicht die Fakten, die unsere Entscheidungen bestimmen, sondern ihre emotionale Bewertung!

Solche auf Unwissenheit basierenden, angstbesetzten, anpasslerischen, gleichgültigen oder vernunftabwehrenden Einstellungen können nur durch eine zeitgemäße naturwissenschaftliche, besser gesagt: wirklichkeitswissenschaftliche Bildung und eine daraus resultierende rationale, vernunftgeleitete Denkweise überwunden werden. Vor allem die frühkindliche, mit Ängsten operierende religiöse Erziehung mit der Spätfolge unbewusst wirkender Abwehrmechanismen gegen Aufklärung und Vernunft gehört öffentlich thematisiert. Auch die im Irrationalen wurzelnde psychischen Dispositionen vieler Menschen, sich gern dem Unerklärlichen, dem Verheißungsvollen, zuwenden, sind bewusst zu machen. Auf breiter Front ist eine Überwindung der antiwissenschaftlichen und archaisch-inhumanen Elemente der christlichen Lehre nur langfristig als Ergebnis angstfreier Erziehung, wissenschaftlich fundierter Bildung und philosophisch-religiöser Aufklärung zu erwarten.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 92 3/2010, S. 24-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2010