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WISSENSCHAFT/015: Darwin und die Religion (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 88/2009 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Darwin und die Religion
Die Auffassungen eines Agnostikers im Lichte der Evolutionstheorie

Von Armin Pfahl-Traughber


Die anglikanische Kirche Englands veröffentlichte 2008 eine Stellungnahme, worin man sich nach fast 150 Jahren bei Charles Darwin für die damalige Ablehnung seiner Auffassungen entschuldigte. Musste er doch zu Lebzeiten die rabiatesten Vorwürfe über sich ergehen lassen. Somit stellt sich angesichts der geänderten Situation heute die Frage: Ist jetzt wieder alles gut? Oder etwas seriöser formuliert: Besteht kein Gegensatz mehr zwischen Evolutionstheorie und Religion?


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Darwin selbst verstand sich nie primär als Religionskritiker. Insofern liegen auch keine inhaltlich entwickelten und systematisch gehaltenen Texte von ihm zum Thema vor. Eine Ausnahme bilden die gut zehn Seiten unter der Überschrift "Religiöse Überzeugung" in der Autobiographie "Mein Leben" (zitiert als ML). Dieser Text bildet neben den Hauptwerken (zitiert als GW für "Gesammelte Werke") die Quellenbasis für die folgende Abhandlung.

In der Gesamtschau lässt sich feststellen: Darwin war zunächst ein gläubiger Christ und distanzierte sich nicht nach einem schnellen Bruch von seiner Religion. Vielmehr vollzog sich diese Entwicklung im Rahmen einer längeren Auseinandersetzung. In der Autobiographie heißt es dazu: "So beschlich mich der Unglaube ganz langsam, am Ende aber war er unabweisbar und vollständig. Dieser Prozess schritt so unmerklich voran, dass ich kein ungutes Gefühl dabei hatte (und auch seither keine Sekunde an der Richtigkeit meiner Schlussfolgerung gezweifelt habe)" (ML, S. 103). In der Tat veranschaulichen Darwins Schriften eine immer stärkere Abkehr von religiösen Vorstellungen, wenngleich dies aufgrund von gesellschaftlichen und privaten Rücksichtnahmen meist nicht deutlich artikuliert wurde. Der Evolutionstheoretiker bekannte sich hierbei aber nicht zum Atheismus: "Das Mysterium vom Anfang aller Dinge können wir nicht aufklären; und ich jedenfalls muss mich damit zufrieden geben, Agnostiker zu bleiben" (S. 103).


Abkehr aus moralischen Gründen

Neben dem Zweifel an den historischen Darstellungen im Alten und im Neuen Testament spielten für Darwins Abkehr vom Christentum auch moralische Gründe eine wichtige Rolle. So verwarf er den Dogmatismus und Fanatismus gegenüber Anders- und Nichtgläubigen: "Ich kann nun wirklich nicht einsehen, warum sich jemand wünschen sollte, das Christentum sei wahr; wenn es nämlich wahr wäre, dann, das scheint mir die Sprache des Textes unmissverständlich zu sagen, würden alle Menschen, die nicht glauben, also mein Vater, mein Bruder und fast alle meine nächsten Freunde, ewig dafür büßen müssen. Und das ist eine verdammenswerte Doktrin" (ML, S. 96). Man findet bei ihm auch kritische Kommentare zur christlich-religiösen Legitimation der Sklaverei. So hieß es schon in dem Buch "Reise eines Naturforschers um die Welt" von 1839: "Und diese Handlungen werden von Leuten ausgeführt und verteidigt, welche bekennen, ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben, welche an Gott glauben und welche beten, dass sein Wille auf Erden geschehe" (GW, S. 341).

Der wirkungsreichste Beitrag Darwins zur kritischen Auseinandersetzung mit Religion ergab sich aus seiner Evolutionstheorie, die in dem Hauptwerk "Über die Entstehung der Arten" von 1859 zusammengefasst ist. Auch wenn es nicht direkt formuliert wurde: Diese Auffassung zur Entwicklung des Lebens in der Natur wandte sich objektiv gegen den Schöpfungsmythos, der nicht nur in der Religion des Christentums besteht. Nach der Bibel ist die Erschaffung der Welt auf das Wirken Gottes zurückzuführen, entstanden doch durch seinen Akt und Willen angeblich binnen einer Woche Mensch, Pflanzen und Tiere als fertige Lebewesen. Demgegenüber bemerkte Darwin: "Ich bin vollkommen überzeugt, dass die Arten nicht unveränderlich sind; dass die zu einer sogenannten Gattung zusammengehörigen Arten in direkter Linie von einer anderen, gewöhnlich erloschenen Art abstammen... Endlich bin ich überzeugt, dass die natürliche Zuchtwahl das wichtigste, wenn auch nicht das ausschließliche Mittel zur Abänderung der Lebensformen gewesen ist" (GW, S. 369).

Mit dieser Deutung der Entstehung des Lebens in der menschlichen und nichtmenschlichen Natur brach der einflussreichste Evolutionstheoretiker gleich in mehrfacher Hinsicht mit dem seinerzeit dominierenden Gottes-, Menschen- und Weltbild: Wenn sich der Mensch und die Tiere in ihrer aktuellen Form im Laufe eines langen Entwicklungsprozesses herausgebildet hatten, konnten sie nicht von einer wie auch immer gearteten Instanz als fertige Lebewesen geschaffen worden sein. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse widersprachen somit objektiv einer ganz zentralen Annahme des seinerzeit dominierenden religiösen Selbstverständnisses, obgleich dies Darwin subjektiv nie als zentrale Position und Stoßrichtung beabsichtigte. Ihm ging es primär um eine Beschreibung und Erklärung der Entwicklung des Lebens und nicht um eine Kritik und Widerlegung der Dogmen des Glaubens. Aber allein schon die Deutung der Vielfalt des Lebens als Ergebnis der natürlichen Auslese und nicht als Folge eines göttlichen Planes stand im fundamentalen Widerspruch zum Schöpfungsmythos.


Religion als Folge geistiger Hochentwicklung

Denn Darwins Auffassung von der Evolution verzichtete auf eine metaphysische und religiöse Komponente, war sie doch in einem rein naturwissenschaftlichen und säkularen Sinne ausgerichtet. Dementsprechend ließ sich bei den unterschiedlichsten Entwicklungen in der Natur kein Plan und kein Ziel ausmachen. Vielmehr entstand das menschliche und nicht-menschliche Leben aus einem komplexen Prozess der Anpassung an die Veränderungen in der Natur. Im Rahmen einer solchen Entwicklung bildete sich für Darwin auch der heutige Mensch aus seinen tierischen Vorfahren heraus. Auf diese Verwandtschaft wies er in seinem späteren Buch "Die Abstammung des Menschen" von 1871 hin. Aus den Gemeinsamkeiten im Körperbau, dem Durchlaufen gleicher Stufen in der früheren Entwicklung und dem Beibehalten ähnlicher Rudimente ergab sich, "dass der Mensch von einer weniger hoch organisierten Form abstammt" (GW, S. 1148). Demnach konnte er nicht mehr wie im christlichen Selbstverständnis als die eigentliche "Krone der Schöpfung" gelten.

Bei seinen Analysen zur Evolution des Menschen ging Darwin auch auf die Entstehung und Funktion der Religion ein: Zunächst wies er darauf hin, dass dem Menschen ein "Glaube an die Existenz eines allmächtigen Gottes" ursprünglich nicht eigen war und dieser erst im Rahmen der Herausbildung besonderer geistiger Fähigkeiten entstanden sei. "Sobald die bedeutungsvollen Fähigkeiten der Einbildungskraft, Verwunderung und Neugierde in Verbindung mit einem Vermögen nachzudenken, teilweise entwickelt waren", so Darwin, "wird der Mensch ganz von selbst gesucht haben, das, was um ihn her vorgeht, zu verstehen, und wird auch über seine eigene Existenz dunkel zu spekulieren begonnen haben" (GW, S. 771). Demnach bildete der religiöse Glaube ein Erklärungsinstrument, das die ansonsten rätselhaften und unverständlichen Entwicklungen in der Natur mit Verweis auf das Wirken übersinnlicher Wesen in Gestalt von Geistern oder Göttern zurückführte. Es handelte sich demnach um das Ergebnis abstrakter Spekulationen über Wirkungszusammenhänge.

Darwin verknüpfte mit dieser Bewertung aber keine intellektuelle Herabwürdigung der Religion, sah er deren Aufkommen doch als Folge besonders hoher geistiger Fähigkeiten der Menschen an: "Das Gefühl religiöser Ergebung ist ein in hohem Grade kompliziertes, indem es aus Liebe, vollständiger Unterordnung unter ein erhabenes und mysteriöses Etwas, einem starken Gefühl der Abhängigkeit, der Furcht, Verehrung, Dankbarkeit, Hoffnung in Bezug auf die Zukunft und vielleicht noch anderen Elementen besteht. Kein Wesen hätte eine so komplizierte Gemütserregung an sich erfahren können, bis nicht seine intellektuellen und moralischen Fähigkeiten zum mindesten auf einen mäßig hohen Standpunkt entwickelt wären" (GW, S. 772). Demgemäß sprach die Herausbildung von verschiedenen Formen des religiösen Glaubens - vom Fetischismus über den Polytheismus bis zum Monotheismus - auch für die ansteigende geistige Entwicklung des Menschen. Hieraus würden sich aber nicht notwendigerweise Belege für die Existenz eines Gottes ergeben.


Einfluss auf die Moralität

Dies gilt es zu beachten, will man die Auffassung Darwins zur Bedeutung der Religion für die Moral nicht als Widerspruch zu seinen sonstigen Auffassungen fehl interpretieren. Für ihn bestand der herausragende Unterschied zwischen Mensch und Tier im moralischen Gefühl bei Ersterem. Zwar machte der bedeutendste Evolutionstheoretiker auch bei Tieren soziale Instinkte aus, welche sich in Form von Altruismus und Kooperation, Rücksichtnahme und Solidarität äußerten. Er sah deren Grundlage aber in einer ursprünglich egoistischen Motivation, die in Erwartung eines erwidernden Verhaltens als Vorteil im Rahmen des Evolutionsprozesses entstanden war. Die spezifische Moralfähigkeit bestand nach Darwin darin, dass der Mensch über die Angemessenheit und Unangemessenheit sozialen Handelns reflektieren könne. Hierbei spielte für ihn auch die Religion eine wichtige Rolle: "Bei den zivilisierten Rassen hat die Überzeugung von der Existenz einer alles sehenden Gottheit einen mächtigen Einfluss auf den Fortschritt der Moralität gehabt" (S. 1152).

Darwin beendete sein Hauptwerk "Über die Entstehung der Arten" mit folgenden Worten: "So geht aus dem Kampf der Natur, aus Hunger und Tod unmittelbar die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen: die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Tiere. Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und dass, während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem Anfang sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt" (GW S. 691). Bedeutet dieser Hinweis auf den "Schöpfer" nun, dass Darwin sich doch als Christ verstand? Dagegen sprechen zwei Argumente: Diese Passage wurde erst in die zweite Auflage aufgenommen und erklärt sich offenbar aus familiär und gesellschaftlich begründeten Rücksichtnahmen. Und Darwin teilte zu dieser Zeit noch religiöse Vorstellungen, wovon er später Abstand nahm.


Ablehnung nur bei Fundamentalisten

Inhaltlich stand hier eigentlich "natürliche Auslese" für "religiösen Schöpfer". Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es um das Verhältnis bzw. die Verträglichkeit von Darwinismus und Religion steht. Wie einleitend exemplarisch aufgezeigt wurde, nahmen die wichtigsten Institutionen des Christentums im Laufe der Zeit ihre Einwände und Vorwürfe immer mehr zurück. Eine dezidierte Ablehnung der Evolutionstheorie lässt sich nur noch bei wenigen Funktionären und in fundamentalistischen Kreisen ausmachen. Kann somit von einer allgemeinen Versöhnung von Darwinismus und Religion gesprochen werden? Trennt man rigoros die Ebene der naturwissenschaftlichen Forschung von der Ebene des religiösen Glaubens und ordnet beide unterschiedlichen Sphären der menschlichen Wahrnehmung zu, so kann durchaus eine Koexistenz von Evolutionstheorie und Glaube möglich sein. Gleichwohl greifen Auffassungen aus dem einen Bereich in die Inhalte des anderen Bereichs über, woraus sich ein fortwährendes Spannungsverhältnis ergibt.

Dieses besteht vor allem im bereits aufgezeigten Gegensatz von Evolutionstheorie und Schöpfungsmythos: Wenn Christentum und Islam als Formen des Theismus von der Existenz eines Gottes ausgehen, welcher in die Entstehung des Lebens eingreift und ihm eine vorgegebene Richtung gibt, dann können solche Auffassungen nicht mehr mit der Evolution in Übereinstimmung gebracht werden. Bei ihr handelt es sich streng genommen nicht nur um einen Erklärungsansatz oder nur um eine Theorie. Die Forschung hat in den Jahrzehnten nach Darwins Tod immer wieder Belege für seine Auffassungen vorbringen und Lücken in seiner Beschreibung schließen können. Insofern muss man von einer dokumentierbaren Tatsache sprechen. Mit ihr lässt sich eine Auffassung im Sinne des Theismus nicht in Übereinstimmung bringen. Allenfalls ist dies beim Deismus möglich: Er geht von der Existenz eines Gottes aus, welcher aber seit der Schöpfung nicht mehr ins Weltgeschehen eingegriffen habe.

Insofern steht der Darwinismus nicht nur für den Agnostizismus oder Atheismus. Der bedeutendste Evolutionstheoretiker neigte selbst zur erstgenannten Auffassung, da er die Frage nach dem Anfang aller Dinge auch nicht beantworten und die Existenz eines Gottes nicht definitiv negieren konnte. Die Klärung dieses Problems hatte für Darwin keinen hohen Stellenwert.


Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, Jg. 1963, Politikwissenschaftler und Soziologe, Professor an der Fachhochschule des Bundes Brühl und Lehrbeauftragter an der Universität zu Bonn, Arbeitsschwerpunkte: Politischer Extremismus, Politische Ideengeschichte.

Die Zitate in Klammern finden sich in den folgenden Ausgaben: Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 2006; Charles Darwin, Mein Leben 1809-1882. Vollständige Ausgabe der "Autobiographie". Herausgegeben von seiner Enkelin Nora Barlow, Frankfurt/M. 2008.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 88 3/2009, S. 33-35
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2009