Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → MEINUNGEN

ETHIK/0001: Einstein und die gerettete Spinne (Ingolf Bossenz)


Einstein und die gerettete Spinne

Eine gottlose Welt muss noch lange keine wertlose Welt sein
- ein etwas anderer Blick auf das Phänomen des Religiösen

Von Ingolf Bossenz


In einem Buch zitiert zu werden, das den Namen Walter Ulbrichts im Titel führt (1), gehörte zu den Überraschungen, die das Jahr 2008 für mich bereit hielt. Kritisiert wurden dort meine im »Neuen Deutschland« getroffenen Feststellungen »Solidarität mit Tieren sollte endlich integrales Element sozialistischer Programmatik und Praxis werden« sowie »Die radikalste Lösung wäre, es gäbe keinen Bedarf mehr an toten Tieren in Teilen oder sonstiger 'Verarbeitung'. Solange verkauft wird, wird gequält und getötet«. »Derartige Extreme«, so monierte der Autor des Bandes meine Ansichten zum Thema Mitwelt und Tierrechte, seien »nicht links, sondern lebensfremd«. Fremdheit bewirkt den Wunsch nach Änderung Das Verdikt »lebensfremd« bezeichnet gewöhnlich Auffassungen oder Meinungen, die einen scheinbar unumstößlichen Zustand oder Ablauf nicht als solchen erkennen oder anerkennen. Indes beschränkt sich der Begriff nicht auf den mit der Alltagsvokabel intendierten Vorwurf angeblicher Ignoranz und/oder Naivität. Das Gefühl der Fremdheit in einem Leben, in das der Mensch ohne Willen und Zutun geworfen wird, ist eine Erfahrung, die wohl jeden irgendwann trifft. »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«, dichtete Wilhelm Müller in der von Franz Schubert vertonten »Winterreise«. Der Philosoph Martin Heidegger sprach vom »existenzialen 'Modus' des Unzuhause« und der »Unheimlichkeit«.

Doch auch und gerade abseits dieser anthropologisch-psychologischen Fremdheitserfahrung fühlen sich Menschen - Individuen und Gruppen - immer wieder und zu allen Zeiten fremd innerhalb der sie beherrschenden Realitäten, bereiten ihnen diese Unwohlsein und erzeugen den Wunsch nach Veränderung. Zustände, Bedingungen, Verhältnisse, die Fremdheit bewirken, weil sie Bedrückung, Einengung, Not, Schmerz, Leid, Zerstörung, Vernichtung bedeuten - für Menschen und/oder Tiere und/oder die natürliche Mitwelt -, führen immer auch zu Forderungen, die in der Tat dem Gegenwärtigen »fremd« sind. Weil sie auf Besseres, Zukünftiges gerichtet sind, zumindest auf zukünftig erhofftes Besseres.

An dieser Stelle wird eine nachgerade zwingende Verbindung von - im positiven Sinne - »lebensfremd« und »links« evident; ja, wer offen und undogmatisch herangeht, kann hier sogar Parallelen zwischen freiem linken und unorthodoxem religiösen Denken ausmachen. Geht es doch jeweils um die Suche nach Möglichkeiten, dem im Leben und in der Welt als fremd Empfundenen zu begegnen, es zu klären und zu erklären, es zu formen und zu verändern.

Der Wissenschaftspublizist Jens Grandt schrieb kürzlich im »Neuen Deutschland« (29./30. November 2008) über »religiöse Erscheinungen im Zusammenhang mit dem Marxismus«, die diesen zu einem Glaubenssystem verunstalteten, das die Unfehlbarkeit der reinen Lehre beanspruchte sowie alle Abweichungen und Abweichler verdammte. Die Konsequenz aus dieser notwendigen Kritik sollte jedoch nicht sein, das Religiöse an sich generell zu verwerfen, dieses Instrument menschlicher Reflexion einzig aus der Perspektive der megalomanischen Folgen in Form absolutistischer Kirchen und stalinistischer Ideologiegebäude zu betrachten.

Ein Problem ist die im öffentlichen Diskurs weitgehende Gleichsetzung von Religiosität mit dem Glauben an einen persönlichen Gott. Dies ist auch der Angriffspunkt der Polemik der sogenannten neuen Atheisten, deren prominentester der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins ist. In seinem Buch »Der Gotteswahn« (2), das dem Aufklärungsgedanken erfreulich frische Impulse verlieh, weist Dawkins zu Recht die Vereinnahmung bedeutender Naturwissenschaftler unserer Zeit durch Vertreter theistisch-religiöser Institutionen zurück. Exemplarisch ist für ihn dabei Albert Einstein. Immerhin gehört zu dessen am häufigsten zitierten Bemerkungen der Satz: »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.«

Dem stellt Dawkins eine andere Aussage Einsteins gegenüber: »Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott und habe das auch nie verhehlt, sondern immer klar zum Ausdruck gebracht. Wenn in mir etwas ist, das man als religiös bezeichnen kann, so ist es die grenzenlose Bewunderung für den Aufbau der Welt, so weit unsere Wissenschaft ihn offenbaren kann.«

Relativiert sich hier der Begründer der Relativitätstheorie selbst? Nein, sagt Dawkins. Denn: »Einstein meinte mit 'Religion' etwas ganz anderes, als man normalerweise darunter versteht.«

Und genau das ist der entscheidende Punkt: »... etwas ganz anderes, als man normalerweise darunter versteht.« Einstein glaubte nicht an einen persönlichen Gott, sah sich aber dennoch als religiösen Menschen. Dass uns »normalerweise« Religiosität ohne Glauben an einen persönlichen Gott schlechterdings unmöglich erscheint, ist vor allem der jahrhundertelangen Deutungshoheit des Kirchenchristentums in dieser Frage geschuldet.

Doch zeigt sich selbst innerhalb der beiden Großkirchen in Deutschland ein weit differenzierteres Bild. Bereits 1997 hatten bei einer Emnid-Umfrage 26 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder erklärt, nicht an »Gott« zu glauben; bei den Katholiken waren es 16 Prozent. Einer ALLBUS-Studie von 2002 zufolge glauben von den Protestanten gerade mal 23,3 Prozent an einen persönlichen Gott, bei den Katholiken sind es lediglich 35,5 Prozent. Das heißt, selbst große Teile der formellen Mitglieder der beiden Konfessionen lehnen die zentrale Glaubensposition ihrer jeweiligen Kirche ab.

Ist die »Wiederkehr der Götter«, die der Theologe Friedrich Wilhelm Graf im Titel eines Buches beschwor, also ein frommer Wunsch? Wurde Gott ein weiteres Mal »getödtet«, wie es Friedrich Nietzsche schon vor fast 130 Jahren verkündet hatte? Wird »eine gottlose Gesellschaft auch eine wertlose Gesellschaft« sein, wie Gregor Gysi warnte? Oder gibt es eine andere, kirchenferne Religiosität, deren universale Wertsetzungen keinen Gott brauchen, ja, die diesen ausdrücklich negieren?


Das Übergreifende der radikalen Sinnfrage

Während Dawkins und andere »neue Atheisten« wie der US-Amerikaner Sam Harris oder der Franzose Michel Onfray das Religiöse definitiv ablehnen, sieht der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek (geb. 1929) in diesem durchaus positive, emanzipatorische Züge (3). Religiosität ist für ihn in erster Linie das Verhältnis der Menschen zu einem letzten Sinn gewährenden Grund und die daraus entspringenden praktischen ethischen und kulturellen Konsequenzen. Mynareks Definition der Religion »als umfassenden, ganzheitlichen, sinnsuchenden und grenzüberschreitenden Vitalimpuls des Menschen« schließt jede Form radikaler Sinnfrage ein. Auch ein Humanismus oder Skeptizismus, der keine Antwort auf letzte Fragen findet, gehört dazu.

Zugegeben, ein solcher Begriff von Religion und Religiosität ist gewöhnungsbedürftig und schwer vermittelbar in einer Gesellschaft, die geprägt wird von mittlerweile allen drei abrahamitischen Religionen einerseits und einer zunehmenden Zurückweisung von religiösem Denken respektive sich ausbreitender Indifferenz gegenüber diesem andererseits. Nicht zuletzt hat eine einseitige Orientierung auf die - auch künftig unverzichtbare - sozioökonomische Religionskritik von Karl Marx (»Opium des Volks«) zu Befangenheit und Voreingenommenheit geführt. Weitgehend vergessen ist indes die Ansicht des Psychoanalytikers Erich Fromm, Religiosität sei eben kein »System, das notwendigerweise mit einem Gottesbegriff oder mit Idolen operiert«. Aber ein derart geweiteter Blick ist unverzichtbar, will man Einsteins (und nicht nur dessen) intellektuelle Haltung verstehen, ohne - wie das Dawkins tut - das Religiöse daran möglichst schnell als Missverständnis wieder loswerden zu wollen. »Es ist gewiss«, erklärte Einstein, »dass eine mit religiösem Gefühl verwandte Überzeugung von der Vernunft bzw. Begreiflichkeit der Welt aller feineren wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegt. Jene mit tiefem Gefühl verbundene Überzeugung von einer überlegenen Vernunft, die sich in der erfahrbaren Welt offenbart, bildet meinen Gottesbegriff: Man kann ihn also in der üblichen Ausdrucksweise als 'pantheistisch' bezeichnen.« Einstein nannte das »kosmische Religiosität« - eine Religiosität, »die keine Dogmen und keinen Gott kennt, der nach dem Bild des Menschen gedacht wäre«. Es könne daher »auch keine Kirche geben, deren hauptsächlicher Lehrinhalt sich auf die kosmische Religiosität gründet. So kommt es, dass wir gerade unter den Häretikern aller Zeiten Menschen finden, die von dieser höchsten Religiosität erfüllt waren und ihren Zeitgenossen oft als Atheisten erschienen, manchmal auch als Heilige. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, stehen Männer wie Demokrit, Franziskus von Assisi und Spinoza einander nahe.«

Der englische Biologe Julian Huxley (1887 - 1975), ein ausgewiesener Atheist, war der Ansicht, Religion lasse sich am besten verstehen »als angewandte spirituelle Ökologie«, die ein umfassendes Leitsystem schaffen müsse: für die Beziehungen der Menschheit zur umgebenden Natur, des individuellen Ichs zu den Kräften seines Innenlebens und des Einzelnen zu den Anderen und zur Gesellschaft. Eine ständige Aufgabe bleibe dabei die »Heiligung des Lebens«.

Primat der Natur statt Primat Gottes - mit dieser Formel ließe sich eine solche spirituelle Ökologie beschreiben. Für den ehemaligen katholischen Priester und Theologieprofessor Hubertus Mynarek kommt allein aus einer solchen Weltsicht die Hoffnung auf Heil. Heil nicht durch eine über der Natur waltende göttliche Kraft, sondern durch den Ausstieg aus der christlichen »Heilsgeschichte der Naturvergessenheit«. Angesichts der ökologischen Weltkrise sei eine neue, eine ökologische Religion nötig, »die das Verhältnis des Menschen zur Gesamtnatur und zum Kosmos in den Mittelpunkt stellt, die sich an das 'große Haus des Universums' rück-bindet (von: religare), die die großen Ordnungen und Gesetze des äußeren Universums wie des inneren, nämlich der Psyche, erkennen, erfühlen, bewundern und verantwortungsvoll praktizieren will«.

Die Werte einer solchen Religion sind weder abstrakt noch müssen sie gleich einer Monstranz durch ehrfürchtig versammelte Massen getragen werden. Inge Keller, die große und großartige Schauspielerin, erzählte mir einmal im Interview: »Vor einigen Jahren hatte ich ein seltsames Erlebnis. An der Tür von meinem Haus auf Hiddensee sitzt eine riesengroße Fliege. Und ich schlag' sie tot. Und ich höre ein leises Stöhnen. Ganz leise. Es ist die Wahrheit. Seitdem schlage ich keine Fliegen mehr tot. Oder Spinnen. Heute morgen saß wieder eine in meiner Badewanne: Unermüdlich versuchte sie, die glatte Wand zu bezwingen, rutschte ab, versuchte es wieder. Kann man so eine Quälerei lange ansehen? Also nehme ich vorsichtig ein Handtuch und setze sie in den Garten, wo sie befreit losläuft. Das ist ein solches Glück für mich, dass mich das auf den ganzen Tag froh einstimmt.« Inge Keller wird dieses Handeln kaum als Ausdruck ökologischer oder anderweitiger Religiosität reflektieren. Und doch zeigt sich darin genau jene »Ehrfurcht vor dem Leben«, die Albert Schweitzer (1875 - 1965) als »Frömmigkeit in ihrer elementarsten und tiefsten Fassung« sah: »Wenn ich ein Insekt aus dem Tümpel rette, so hat sich Leben an Leben hingegeben und die Selbstentzweiung des Lebens ist aufgehoben.«

Nichts anderes meint Mynarek, wenn er schreibt, »dass auch die globalsten und präzisesten psychologischen, anthropologischen, soziologischen, politologischen und ökologischen Analysen der gegenwärtigen Menschheitskrise durch die Ratio keine tiefgreifende Besserung herbeiführen können, wenn kein neues Lebensgefühl, kein neues Verständnis der Natur, keine neue Ehrfurcht vor ihr und ihren atemberaubenden Werten und Eigengesetzlichkeiten entsteht«. Auch für Karl Marx war die »vollendete Wesenseinheit der Menschen mit der Natur« ein notwendig anzustrebendes Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung.


»Wesenseinheit« von Menschen und Natur

»Vollendete Wesenseinheit der Menschen mit der Natur« dürfte wohl ein nicht minder schwieriges Ziel sein wie der Kommunismus. Und ohne wahrhaft religiösen Enthusiasmus kaum in Angriff zu nehmen. Der Weg als Ziel. Mit vielen kleinen, oft banal erscheinenden Schritten. Wie diesem: Am Nachmittag des 24. Dezember versammeln sich in jedem Jahr vor dem Berliner Dom am Lustgarten Mitglieder des Vereins Tierversuchsgegner Berlin und Brandenburg bei einer Mahnwache und - so die Ankündigung - »gedenken aller durch Menschenhand geschundenen Tiere«. Man könnte die Aktion »lebensfremd« nennen, denn die Weihnachtsbraten der Hunderte von Kirchgängern sind am »Heiligen Abend« längst ausgenommen und zerteilt oder schmurgeln bereits in der Pfanne. Wie alle Jahre wieder. Und auch das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben: Dass die Solidarität auch mit Tieren nicht mehr als »extreme« Forderung, sondern als notwendiger, als existenzieller Wert betrachtet wird.


Anmerkungen
(1) Herbert Graf: Mein Leben. Mein Chef Ulbricht. Meine Sicht der Dinge. Berlin 2008, S. 89
(2) Richard Dawkins: Der Gotteswahn. Berlin 2007
(3) Näheres dazu in folgenden Büchern von Hubertus Mynarek:
Religion - Möglichkeit oder Grenze der Freiheit? Köln 1977;
Ökologische Religion - Ein neues Verständnis der Natur. München 1986;
Mystik und Vernunft - Zwei Pole einer Wirklichkeit. Olten und Freiburg 1991


*


Quelle:
Ingolf Bossenz, Februar 2009
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 20.12.2008


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2009