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STANDPUNKT/005: Veganismus - Die Jugend bahnt den Weg (tierrechte)


tierrechte Nr. 60, Juni 2012
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Veganismus: Die Jugend bahnt den Weg

Das Gespräch führte Stephanie Elsner



Einen elementaren Ausdruck findet die Tierrechtsbewegung in der veganen Lebensweise. Bisher führte der Veganismus eher ein Nischendasein. Könnte er sich zukünftig in unserer Gesellschaft durchsetzen? Dr. Bernd-Udo Rinas hat im Januar 2012 promoviert und das Buch "Veganismus - Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?" veröffentlicht. Anlass für tierrechte , ihn zu befragen. Dr. Bernd-Udo Rinas ist Diplom-Politikwissenschaftler, Diplom-Sozialpädagoge sowie Jugendforscher und arbeitet als Referatsleiter beim Landesjugendamt Brandenburg in Bernau bei Berlin. Über eine besondere Ausbildung verfügt er in der geschlechtsreflektierenden Gender-Pädagogik. Er selbst ist Vegetarier und möchte wieder vegan leben.


tierrechte: Herr Rinas, Sie haben gerade auf 300 Seiten über "Veganismus und Anarchismus" promoviert. Wie kamen Sie auf dieses Thema?

Bernd-Udo Rinas: Da ich Anfang der 90er Jahre vegan gelebt habe, beobachte ich die gesellschaftliche Entwicklung des veganen Lebensstils schon wegen des persönlichen Bezugs. Die Idee für das Thema ist entstanden, als ich in einem Jugendclub arbeitete und dort eine Hardcore-Musik-Gruppe den Veganismus auf der Bühne zum Thema machte. Außerdem wurde der Veganismus innerhalb der autonomen und Antifa-Szene* lebhaft diskutiert.

tierrechte: Was hat Veganismus mit Anarchie zu tun?

Bernd-Udo Rinas: Eigentlich dürften beide nichts miteinander zu tun haben, weil beim Anarchismus der Mensch im Mittelpunkt steht und der Veganismus auf die Rechte aller Lebewesen abzielt. Sie haben jedoch den gleichen Ausgangspunkt: die Auseinandersetzung mit Herrschaftsverhältnissen bzw. Machtstrukturen. So zeigt z. B. der "Triple-Oppression-Ansatz" der radikalen Linken die Gleichwertigkeit der Unterdrückungsverhältnisse Kapitalismus, Rassismus und Sexismus auf. Der die Tiere einbeziehende Speziesismus macht deutlich, dass es noch mehr vergleichbare Unterdrückungsverhältnisse gibt. Vegan zu leben ist somit eine Option, sich zumindest gegen bestehende Machtverhältnisse aufzulehnen und letztlich anarchistisch zu leben.

tierrechte: Welche Bedeutung hat der Veganismus für die Jugendlichen? Was treibt sie an?

Bernd-Udo Rinas: Es hat sich gesellschaftlich in den letzten Jahren viel verändert in den Bereichen Familie, Bildung, Religion. Nur ein Beispiel: die klassische Vater-Mutter-Kinder-Familie ist von wechselnden Familienkonstruktionen wie sogenannten Patchwork-Familien abgelöst worden. In dieser gesellschaftlichen Umbruchzeit und auch Unklarheit bedeutet der Veganismus für Jugendliche ein ganz persönliches, schnell umzusetzendes Lebenskonzept, das sich vor allem klar von der Erwachsenenwelt abgrenzt. Und diese Abgrenzung ist für Jugendliche - wir sprechen hier von einem Alter von 13 Jahren bis Mitte 20 - sehr wichtig.

Auch das Wertesystem hat sich stark verändert. Von Seiten der Eltern, Erzieher und der Politik wird heute vermittelt: Du selbst bist verantwortlich für Dein Leben! Das heißt, Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung sind heute Ziele und Werte, die die damaligen auf Gemeinschaft und Gruppen ausgerichteten Werte abgelöst haben. Somit muss jeder Einzelne seinen Weg finden. Außerdem ist Jugendlichen die Entwicklung von eigenen sozialen Zusammenhängen unheimlich wichtig. Dort passt der Veganismus gut hinein.

Darüber hinaus wissen Jugendliche und oft schon Kinder sehr genau, was gerecht und ungerecht ist. Sie sehen, was die Erwachsenenwelt produziert hat, einschließlich der Ausbeutung von Natur und Tier. Speziesismus ist Vielen gegenwärtig und sie wollen daher gerechter mit der Welt umgehen, dazu gehört dann auch der Umgang mit Tieren.

tierrechte: Ist nicht zu befürchten, dass der Veganismus nur ein vorübergehender Trend ist?

Bernd-Udo Rinas: Nein, da bin ich mir ziemlich sicher: Es ist nicht vorübergehend. Dass sich Orientierungen und Meinungen insbesondere bei Jugendlichen ändern, ist völlig klar. Allerdings erachte ich die Identitätsbildung bei Jugendlichen heute als stabiler und nachhaltiger. Da der vegane Lebensstil wie eben gesagt aus Abgrenzungs- und Erkenntnisgründen gewählt wird, ist das im Jugendlichen gewachsen und entschieden. Begünstigend kommt hinzu, dass das Thema vegan leben immer mehr in der Gesellschaft angekommen ist. Das Selbstverständnis ist heute ein anderes und vor allem gibt es viel mehr vegane Produkte, Netzwerke und Gruppen als z. B. noch in den 90er-Jahren.

tierrechte: Meinen Sie, dass diese Tendenz zur veganen Ernährung und Lebensführung auch auf den restlichen Teil der Gesellschaft ausstrahlen könnte? Oft gelten Veganer doch immer noch als Spinner.

Bernd-Udo Rinas: Ich gehe von einer steigenden Tendenz aus. Auch wegen der Klima-Gesichtspunkte. Der Fleischkonsum und seine ökologischen Folgen werden seit wenigen Jahren stärker denn je durch die Medien thematisiert. Außerdem positionieren sich Vegetarier und Veganer viel selbstbewusster als noch vor etwa zehn Jahren. So wird beispielsweise selbst der gedankenlose Fleischesser mit dem Thema konfrontiert, wenn er mit öffentlichen Einrichtungen oder Firmen zu tun hat, die bei der Kampagne "Donnerstag ist Veggietag" mitmachen. Da gerade Kinder und Jugendliche das Thema forcieren, werden auch automatisch die Menschen in ihrem Umfeld davon berührt. Eltern, Lehrer oder Erzieher wollen heute die Heranwachsenden in ihrer Individualität stärken. Man beginnt sogar, den Komplex Veganismus in der Ausbildung von Lehrern und Erziehern zu behandeln. Veganer werden zwar noch vielerorts als Spinner gesehen, aber das wird sich in Zukunft ändern.

tierrechte: Würden Sie sagen, dass der Veganismus in der Politik angekommen ist?

Bernd-Udo Rinas: Angekommen ja, aber noch ganz zaghaft. Das heißt, die Notwendigkeit Maßnahmen zu ergreifen, scheint noch nicht deutlich genug zu sein. Ich sehe eher eine Parallele zu Ihrer damals gestarteten Initiative "Tierschutz ins Grundgesetz". Das Thema wurde zwar schnell aufgenommen, die tatsächliche Umsetzung dauerte aber noch mehrere Jahre.

tierrechte: Inwieweit hat die Verbreitung des Veganismus mit den neuen Medien zu tun?

Bernd-Udo Rinas: Ganz wesentlich trägt das Internet mit seinen vielfältigen Möglichkeiten zur Verbreitung des veganen Lebensstils bei. In der Vergangenheit war es als neue soziale Bewegung notwendig, vor Ort in Gruppen oder Vereinen aktiv zu sein. Das ist heute nicht mehr notwendig. Wer jetzt Teil der veganen Bewegung sein möchte, kann dies über das Netz und die neuen Medien sein. Über diese wird der Veganismus viel schneller verbreitet als die meisten Erwachsenen es sich vorstellen können. Zur Verdeutlichung: Ein Jugendlicher ist heute allein über facebook binnen kürzester Zeit in der Lage, Informationen, Meinungen bzw. sein Thema an über hundert sogenannte Freunde zu verschicken. Die neuen Medien haben eine große Bedeutung für das Weiterverbreiten und das Entwickeln von eigenen Werten und Haltungen.

tierrechte: Hat das Thema "Tierrechte" heute eine größere Bedeutung als noch vor 10 Jahren? Wenn ja, warum?

Bernd-Udo Rinas: Tierrechte sind heute ein gesellschaftliches Thema. Mit der Verankerung im Grundgesetz hat die Bedeutung der Tierrechte zugenommen, wenngleich viele Menschen das noch nicht verstanden haben. Die Definition von Tierrechten wird allerdings von Menschen unterschiedlicher Altersstufen anders gefüllt. Vegane Jugendliche haben vermutlich eine andere, eingeschränktere Definition als Ihr Verband. Sie fragen sich eher, wie eine gerechtere Gesellschaft aussehen kann und handeln zugunsten der Tiere.

tierrechte: Auch wenn dies ein Blick in die Glaskugel ist - was meinen Sie, wie wird sich die Tierrechtsbewegung entwickeln?

Bernd-Udo Rinas: Grundsätzlich sehe ich das positiv. Die Tierrechtsbewegung wird weiter wachsen. Jetzt sind es vor allem Jugendliche, die sich mit veganem Leben auseinandersetzen. Das wird auch in ihr Erwachsensein ausstrahlen. Was ich als bedenklich erachte, ist der Umgang der Tierrechtler untereinander. Hier wird über Details und unterschiedliche Auffassungen noch sehr gestritten, was zu Abgrenzungen und Zersplitterungen führt. Die Chance für breitere Akzeptanz und schnelleres Wachstum - einschließlich der veganen Bewegung - sehe ich nicht im gegenseitigen Überzeugen, sondern in einem von Toleranz geprägten Miteinander.

tierrechte: Herr Dr. Rinas, wir danken Ihnen sehr für Ihre interessanten und optimistisch stimmenden Ausführungen.

(*) Der Begriff Antifa ist ein Akronym der Begriffe Antifaschismus und Antifaschistische Aktion. Er bezeichnet linke gesellschaftliche Gruppen, die sich in ihrem Verständnis von Antifaschismus das Ziel gesetzt haben, Nationalismus und Rassismus zu bekämpfen.


Bernd Udo Rinas:
"Veganismus - Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?"
312 Seiten, 1. Auflage 2012, Verlag: Archiv der Jugendkulturen KG
28 Euro, ISBN 978-3-940213-71-6

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Quelle:
tierrechte - Nr. 60/Juni 2012, S. 12-13
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2012