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VEGETARIERBUND/347: Schlachthöfe und der "vernünftige Grund" (natürlich vegetarisch)


natürlich vegetarisch 02/09 - Frühling 2009
Das VEBU Magazin

... und darüber der gestirnte Himmel
Schlachthöfe, Schlachtfelder und der "vernünftige Grund"

Von Ingolf Bossenz


"Mehr als die Hälfte des Praktikums ist vorüber, als ich endlich in die Tötungshalle gehe, um sagen zu können: 'Ich habe gesehen.' Hier schließt sich der Weg, der vorn an der Laderampe beginnt. Der kahle Gang, in den alle Pferche münden, verjüngt sich und führt durch eine Tür in einen kleinen Wartepferch für jeweils vier oder fünf Schweine. Sollte ich je den Begriff 'Angst' bildlich darstellen, ich würde die Schweine zeichnen, die sich hier gegen die hinter ihnen geschlossene Tür zusammendrängen, ich würde ihre Augen zeichnen. Augen, die ich niemals mehr vergessen kann. Augen, in die jeder sehen sollte, den es nach Fleisch verlangt."

Zitat aus dem Erfahrungsbericht einer Veterinärstudentin, den die österreichische Psychologin Astrid Kaplan in der Studie "Die Mensch-Tier-Beziehung. Eine irrationale Angelegenheit" dokumentiert.


*


Nachdem im vergangenen Jahr die Tageszeitung "Neues Deutschland" einen Text von mir über die Massentötung von Tieren im Industriekapitalismus und die dafür entwickelte und eingesetzte Fließbandtechnik veröffentlicht hatte, rief mich ein Amtstierarzt an. Seine Ablehnung meines Beitrags begründete er unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass es in dem von ihm zu kontrollierenden Schlachthof schließlich "tierschutzgerecht" zugehe.

Nun hatte ich mich über konkrete Bedingungen in Schlachthöfen gar nicht geäußert, wozu ich mich im Unterschied zu der oben zitierten Veterinärstudentin auch nicht in ausreichendem Maße als kompetent betrachte. Und sicher herrschen in heutigen Tierfabriken nicht mehr jene Zustände, wie sie Upton Sinclair noch vor gut 100 Jahren in seinem Roman "Der Dschungel" schilderte oder wie sie der russische Revolutionsdichter Wladimir Majakowski 1925 in "Meine Entdeckung Amerikas" nach einer Besichtigung der Schlachthöfe von Chicago resümierte: "In den Schlachthäusern verweilt man nicht, ohne dass Spuren zurückbleiben. Hat man in ihnen gearbeitet, so wird man entweder Vegetarier oder man tötet kaltblütig Menschen, wenn man es satt hat, sich im Kino zu amüsieren. Nicht umsonst ist Chicago der Ort der sensationellen Morde, der Ort der legendären Gangster."

Nein, mit Ausnahme der üblichen "schwarzen Schafe" (Warum müssen eigentlich immer wieder Tiere für die "Sauereien" der Menschen herhalten?) geht es im 21. Jahrhundert beim Massentöten nichtmenschlicher Wesen zum leiblichen Wohle des Menschen zweifellos gesetzlich, ordentlich, gerecht - eben "tierschutzgerecht" - zu. Das Problem, das der Anrufer mit meinem Text hatte, war auch nicht, dass ich diesen oder jenen Schlachthof kritisierte, sondern dass ich den Schlachthof an sich, das massenhafte Töten von Tieren an sich (und nicht nur das massenhafte) in Frage stellte. Schließlich, so sein Argument, sei dieses Töten durchaus in Ordnung und geschehe ja - wie im Tierschutzgesetz gefordert - aus einem "vernünftigen Grund".

Neben dem Begriff "tierschutzgerecht" dient der "vernünftige Grund" wesentlich der Verschleierung und Rechtfertigung von Vorgängen, über deren Ausklammerung aus der gesellschaftlichen Debatte sich Tier-"Produzenten" wie -"Konsumenten" weitgehend einig sind. Dieser Blockademechanismus ist eine Voraussetzung dafür, dass die "Ware Tier" überhaupt als solche akzeptiert wird. Er macht es zugleich schwer, die strukturelle Gewalt zu erkennen, die mit der Institution des Schlachthofs verbunden ist.

"Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben." Dieser gern von Tierschützern zitierte Satz des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi wird oft als simplifizierende Weltsicht naiver Romantiker abgetan. Doch das unterstellte Deutungsmuster, das Ende der Massentötung von Tieren zöge das Ende des Massenmordens in Kriegen sozusagen automatisch nach sich, ist eben nicht das mit dieser Sentenz Gemeinte.

Es geht vielmehr darum, die Einstellung zu und die Behandlung von Tieren als einen (einen! - gleichwohl nicht zu unterschätzenden) Faktor für das Schreckliche zu betrachten, das Menschen einander antun. Konkret auf bewaffnete Auseinandersetzungen bezogen spricht beispielsweise Vieles dafür, dass die Entwicklung der Kriegstechnik ihre Wurzeln in der Auseinandersetzung der Menschheit mit den Tieren hat, wie die US-amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich nachwies. In ihrem Buch "Blutrituale - Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg" schreibt sie: "Die ersten Kriegswaffen wurden so gut wie sicher ursprünglich gegen Tiere entwickelt und eingesetzt. Dasselbe gilt für die Taktiken des Frontalangriffs und des Angriffskeils. Bis weit in die Neuzeit hinein bezeichnete man ja auch leichte Regimenter, die ganz ähnlich wie vermutlich altsteinzeitliche Jäger in geschlossener Linie vorrückten, als Jäger - hunters, chasseurs - und steckte sie in grüne Uniformen." Nicht zu vergessen, dass neue Vernichtungswaffen nach wie vor zuerst an Tieren erprobt werden.

Die entscheidende Zäsur bei der Ausformung des modernen strukturellen Mensch-Tier-Gewaltverhältnisses vollzog sich im Gefolge des aufsteigenden Kapitalismus. Der Historiker und Politikwissenschaftler Enzo Traverso verortet in seinem Essay "Moderne und Gewalt"(*) diesen Aspekt sogar an maßgeblicher Stelle zwischen der Einführung der Guillotine als dem "ersten Schritt hin zu einer Serialisierung der Praktiken des Tötens" und Auschwitz als dem "industriellen Epilog im Zeitalter des fordistischen Kapitalismus": "Zwischen dem mechanischen Fallbeil, das nach 1789 für die Todesstrafe in Anwendung kam, und der industriellen Vernichtung von Millionen von menschlichen Wesen gibt es mehrere dazwischenliegende Etappen. Die wichtigste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war wahrscheinlich die Rationalisierung der Schlachthöfe. ... Die Tiere wurden nun nach durchrationalisierten Prozeduren am Fließband getötet: Sammeln in den Pferchen, Tötung, Ausweidung, Entsorgung der Abfälle."

Traverso reiht das Schlachthaus in jene Elemente ein, die "zuvor das gesellschaftliche Universum und die mentale Landschaft, in denen die 'Endlösung' erdacht und ins Werk gesetzt wurde", geschaffen hatten: "die Guillotine, das Schlachthaus, die fordistische Fabrik, die rationelle Verwaltung ebenso wie der Rassismus, die Eugenik, die Kolonialmassaker und das Massensterben des Ersten Weltkrieges". Diese Elemente "haben für die technischen, ideologischen und kulturellen Vorbedingungen gesorgt, indem sie den anthropologischen Kontext entwickelt haben, in dem Auschwitz möglich geworden ist". Traverso verweist dabei auf den Soziologen, Journalisten und Schriftsteller Siegfried Kracauer, der in seiner "Theorie des Films" eine Analogie zwischen Schlachthöfen und den Todeslagern der Nazis ausgemacht hat. Kracauer verglich Dokumentarfilme über die NS-Lager mit einem Film wie "Le sang des bêtes" (Das Blut der Tiere) von Georges Franju "und betonte, bis zu welchem Punkt an beiden Orten der gleiche methodische Charakter der Anlage des Tötens und dieselbe geometrische Organisation des Raumes vorherrschte".

Wohlgemerkt, es geht hier nicht um eine direkte Kausalbeziehung, nicht um zwingende Folgen. Das unterscheidet Traversos Analyse von wohlfeil-provokativen "KZ-Vergleichen". Geschichte ist immer geprägt von Kontingenz, von zahllosen Möglichkeiten, die einem Konglomerat von Bedingungen innewohnen, ohne dass diese jemals zur Realität werden müssen.

Beruhigend ist das dennoch nicht. Nicht nur mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Allein in Deutschland werden jedes Jahr schätzungsweise 450 Millionen sogenannte Nutztiere gewaltsam zu Tode gebracht. Das sind pro Tag mehr als 1,2 Millionen. Eine Statistik, die einen tiefen Einbruch in der von Traverso erwähnten "mentalen Landschaft" bezeichnet. Einen Einbruch, den der polnisch-amerikanisch-jüdische Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer in den herausfordernden Satz fasste: "Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka."

Das Zitat ist keine wissenschaftliche These, sondern ein emotionaler Aufschrei. Der plakative Dauergebrauch in der Tierrechtsszene macht es sinnvoll, an den Ursprung dieses Satzes in Singers Roman "The Letter Writer" (Der Briefschreiber) zu erinnern. Der Protagonist darin ist der in New York lebende jüdische Verlagsangestellte Herman Gombiner, dessen gesamte Familie von den Nazis ermordet wurde. Die wichtigste Vertraute des einsamen Mannes ist eine Maus, die er in seiner Wohnung mit Futter und Wasser versorgt, mit der er spricht, der er sich tief verbunden fühlt. Herman wird arbeitslos und krank und kann sich in seiner Schwäche nicht mehr um die Maus kümmern, für die er in seiner Verzweiflung sogar betet und zu dem anklagenden Fazit gelangt: "Was wissen sie schon, all diese Gelehrten, diese Philosophen, die Führer der Welt, über dich und deinesgleichen? Sie haben sich eingeredet, der Mensch, der schlimmste Übeltäter unter allen Lebewesen, sei die Krone der Schöpfung. Alle anderen Kreaturen seien nur erschaffen worden, um ihm Nahrung und Pelze zu liefern, um gequält und ausgerottet zu werden. Ihnen gegenüber sind alle Menschen Nazis; für die Tiere ist jeden Tag Treblinka." Singer wurde zum Vegetarier, weil er nicht verstand, "wie wir von Gnade sprechen oder um Gnade bitten, wie wir über Humanismus reden und gegen das Blutvergießen eintreten konnten, wenn wir selbst Blut vergossen - das Blut von Tieren und unschuldigen Kreaturen".

Ist es vernünftig, mit einer Maus zu sprechen, mit ihr zu leiden, für sie zu beten? Ist es vernünftig, Millionen und Milliarden Tiere zu massakrieren, nur um den exzessiven Fleischkonsum in den Industriestaaten zu bedienen? Folgt man dem US-amerikanischen Sozialphilosophen Jeremy Rifkin, ist dies sogar der Gipfel der Unvernunft, da die Viehzucht die zweitwichtigste Ursache für den Klimawandel ist (nach dem Energieverbrauch von Gebäuden) und zugleich mit dafür sorgt, dass Hunderte Millionen Menschen in den armen Ländern hungern. Vernunft ist ein sehr strapazierfähiger Begriff. Und es gibt zweifellos eine Menge "vernünftiger" Gründe, nicht nur Tiere, sondern auch Menschen zu töten. In Kriegen reklamieren alle beteiligten Konfliktparteien diese Gründe für sich. Und mit dem "Krieg gegen den Terror" hat sich - vorerst in den USA - auch ein "vernünftiger Grund" gefunden, Folter wieder als Instrument juristischer Ermittlungen zu legitimieren.

"Vernunft" wird zum wohlfeilen Rechtfertigungsinstrument, wenn nicht moralische Maximen und - beim Umgang mit leidensfähigen Wesen (Menschen und Tiere) - Empathie hinzukommen. Empathie, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist eine natürliche Eigenschaft des Menschen. Eine Eigenschaft, die immer wieder für innere Konflikte sorgt, wenn der Mensch konfrontiert wird mit dem elenden Leben und Sterben der Kreaturen, deren Teile auf seinem Teller liegen. Und ebenso natürlich ist der Wunsch nach Verdrängung. Dem die Fleischindustrie Rechnung trägt, indem sie Schlachthöfe "unsichtbar" macht, sie in Randgebieten und außerhalb von Bevölkerungszentren betreibt, die "Verbraucher" nicht mit dem Anblick der eintreffenden und in die Tötungshallen getriebenen Transporte behelligt.

Der Philosoph und Soziologe Max Horkheimer beschrieb den kapitalistischen Gesellschaftsbau als ein "Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist". Dieses Haus gewähre "in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel". Horkheimer verfasste diesen Text Anfang der 30er Jahre. Hochaktuell ist er noch immer. "Es ist seltsam, dass so ein völliges Abschließen und Nichtwissen in einer offenen Gesellschaft möglich ist", meint der österreichische Regisseur Nikolaus Geyrhalter, dessen Film "Unser täglich Brot" die Realität der Lebensmittelproduktion in einer schonungslosen und leider seltenen Wahrhaftigkeit zeigt.

Während die Kathedralen des Konsums ihre überquellende Pracht präsentieren, bleibt der Schlachthof im Keller verborgen. Im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Diese Verdrängungsstrategie ist existenziell für die Sicherung des Profits. Denn die "Verbraucher" sollen tunlichst nicht bei jedem Bissen daran erinnert werden, dass das Fleisch, dessen Verzehr "natürlich" sein soll, von einem Ort kommt, der keinen "natürlichen" Tod kennt. Wo der gewaltsame Tod die Normalität ist. Tag für Tag.


Anmerkung:

(*) Enzo Traverso: Moderne und Gewalt.
Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors.
Aus dem Französischen von Paul B. Kleiser.
Neuer ISP Verlag. 160 S., br., 15 EUR.

© Ingolf Bossenz, 2009


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Quelle:
natürlich vegetarisch 02/09 - Frühling 2009, S. 6-8
60. Jahrgang
Vegetarierbund Deutschland e.V. (VEBU)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2009